Das Blut der Unsterblichen
der Unsterblichen, über getönte Scheiben verfügte, um sie vor dem Sonnenlicht, und vor neugierigen Blicken, zu schützen. Nachdem sie im Wagen Platz genommen hatte, schenkte Philippe ihr ein aufmunterndes Lächeln, sagte aber nichts. Intuitiv spürte er, dass sie mit ihren Gedanken alleine sein wollte.
Während sie die Stadt verließen, betrachtete Kristina die Landschaft. Getrieben von der Liebe zu Marcus und ihrer Tochter war sie eine Unsterbliche geworden. Doch nun war sie allein, eine Fremde unter Fremden. Heimatlos.
„Du bist nicht allein“, sagte Philippe unvermittelt.
Kristina blickte ihn erstaunt an. „Kannst du Gedanken lesen?“
„Ein wenig.“
„Bist du etwa auch ein geborener Unsterblicher?“
Philippe warf ihr einen kurzen Blick zu. „Nicht direkt.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Das macht nichts. Eines Tages wirst du es verstehen. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass wir dir helfen werden, dich in deinem neuen Leben zurechtzufinden. Estelle freut sich darauf, dich zu lehren. Du bist nicht allein, Kristina.“
„Vielen Dank, Philippe. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“
Ein paar Minuten fuhren sie schweigend weiter. Kristina vertiefte sich erneut in die Landschaft, betrachtete interessiert die vorbeiziehenden Dörfer und Felder. Alles war so klar. Sie war in der Lage, selbst kleinste Details zu erkennen, und weit entfernte Dinge, näher heranzuholen. Derweil trommelte Philippe mit den Fingerspitzen auf dem Lenkrad herum und summte die Melodie eines alten Chansons. Non, je ne regrette rien, sang er leise vor sich hin.
„Bereust du es?“, fragte er plötzlich.
Kristina sah ihn an. „Was?“
„Dass du zu einer Unsterblichen geworden bist?“
Bereute sie es? Sie horchte tief in sich hinein, fühlte ihren starken Körper und die geschärften Sinne. Der Blutdurst und die daraus resultierende Gefahr, einen Menschen zu töten, war das Unangenehmste am Dasein eines Unsterblichen, dagegen war der Bruch mit ihrem alten Leben vergleichsweise einfach zu ertragen. Leidvolle, menschliche Krankheiten würden ihr erspart bleiben, und selbst wenn sie zehn oder gar zwanzig Jahre auf Marcus warten müsste, war das im Vergleich zu ihrer Lebenserwartung ein Klacks. In ihrem Abschiedsschmerz war sie von einer kurzfristigen, menschlichen Lebensplanung ausgegangen. Doch sie musste jetzt weiter denken, viel weiter. Neue Wege lagen vor ihr. Sie könnte Kunst studieren, den Mount Everest besteigen oder die Welt bereisen. Und selbst wenn sie zwanzig Jahre in einer Fabrik schuften müsste, wäre sie trotzdem noch immer jung.
Und Leila? Ihre Tochter würde mindestens genauso lange leben wie sie. Noch dazu war sie etwas Besonderes, und das ausnahmsweise nicht nur in den Augen ihrer Mutter.
Sie vermisste Marcus und sorgte sich um ihn, doch sie musste sich in Geduld üben und das Beste hoffen. Eines Tages, das spürte sie, würde sie ihn wiedersehen und dann würde sie nichts mehr trennen. Es mochte lange dauern, bis es soweit war, aber es würde geschehen.
Sie lächelte. „Nein. Ich bereue es nicht!“
Und das war die reine Wahrheit.
Epilog
Wie jede Nacht wanderte Kristina über das Anwesen. Begleitet von dem nächtlichen Konzert der Grillen, schlenderte sie durch den Garten, bis sie zu dem kleinen Teich hinter dem Haus gelangte. Sie ging in die Hocke und ließ ihre Finger durch das dunkle Wasser gleiten. Die neugierigen Kois näherten sich ihren Händen, schwammen um sie herum und stupsten sie mit ihren Leibern. Sie lächelte und strich zärtlich über die schuppige Haut. Ihr Blick wanderte in die Ferne, zu den Pferdekoppeln mit den Stallungen. Alles war ihr mittlerweile so vertraut, als hätte sie ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie zog die Schuhe aus und schlenderte barfuß durch das kühle Gras. Ihr Körper nahm die Dinge deutlicher und intensiver wahr als je zuvor, gleichzeitig war ihre Haut viel robuster. Sie spürte die weiche, feuchte Erde unter ihren Füßen, das Kitzeln der einzelnen Grashalme und die feinen Vibrationen, die ihre Schritte verursachten. Gleichzeitig machte es ihr nicht das Geringste aus, wenn sie über einen Ast oder einen spitzen Stein lief.
Sie dachte an Philippe und Estelle, die sich irgendwo in einem der zahllosen Zimmer des Hauses miteinander vergnügten. Die beiden waren mittlerweile seit über hundert Jahren zusammen, und schienen einander noch immer zu begehren. Manchmal konnte Kristina sie hören. Eine dieser Nächte war es auch gewesen, in der sie
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