Das Boese in uns
vergessen ... aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Frau keines natürlichen Todes gestorben, sonst wäre ich nicht hier.«
»Gut beobachtet, wie ich es nicht anders erwartet habe«, sagt Rathbun. »Sie haben recht, Agentin Barrett. Die Frau wurde ermordet. An Bord eines Passagierflugzeugs auf dem Weg von Texas nach Virginia. Niemand hat bemerkt, dass sie tot war, bis sämtliche Passagiere die Maschine verlassen hatten und die Stewardess versucht hat, die Frau zu wecken.«
Ich starre ihn an. Ich bin sicher, dass er mich auf den Arm nimmt. »Ein Mord in zehntausend Metern Höhe? Das ist ein Witz, Sir, oder?«
»Leider nein.«
»Woher wissen wir, dass sie ermordet wurde?«
»Die Art und Weise, wie sie gefunden wurde, lässt keinen anderen Schluss zu. Doch ich möchte, dass Sie sich alles mit eigenen Augen anschauen, ohne Voreingenommenheit.«
Ich wende mich erneut der Leiche zu. Ich bin jetzt schon fasziniert von diesem Fall. »Wann ist es passiert? Wann genau wurde die Frau gefunden?«
»Ihr Leichnam wurde vor zwanzig Stunden entdeckt.«
»Haben wir bereits eine Todesursache?«
»Die Autopsie steht noch aus.« Director Rathbun blickt auf seine Uhr. »Der Gerichtsmediziner müsste bald hier sein. Wahrscheinlich wurde er aufgehalten, weil er zuvor eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschreiben muss.«
Dieser außergewöhnliche Umstand bringt mich zu meiner ursprünglichen Frage zurück: »Warum ausgerechnet ich, Sir? Oder besser gefragt, warum Sie? Was ist so Besonderes mit dieser Frau, dass es die Einbindung des FBI-Chefs in die Ermittlungen erfordert?«
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Aber zuerst möchte ich, dass Sie sich etwas ansehen. Haben Sie Geduld, Agentin Barrett.«
Als hätte ich eine Wahl
Rathbun geht zu der Leiche und hebt das Laken von der Brust der Toten. Er hält es hoch. »Sehen Sie her«, sagt er.
AD Jones und ich treten zum Kopfende des Untersuchungstisches, sodass wir den Leichnam von oben nach unten betrachten können. Ich sehe kleine Brüste mit braunen Warzen, einen flachen Bauch, um den ich die Frau beneiden würde, wäre sie noch am Leben. Mein Blick gleitet tiefer und gelangt ungestraft zum Schambereich, eine der vielen Würdelosigkeiten, die Tote über sich ergehen lassen müssen.
Und dann halte ich schockiert inne.
»Sie hat einen Penis!«, sprudelt es aus mir hervor.
AD Jones sagt nichts.
Director Rathbun lässt das Laken zurückgleiten, langsam und behutsam, eine beinahe väterliche Geste.
»Das ist Lisa Reid, Agentin Barrett. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Ich runzle die Stirn, während ich versuche, die Verbindung herzustellen. Ich kenne nur einen Namen, der die Anwesenheit von Director Rathbun rechtfertigen würde.
»Sie meinen ... wie beim Kongressabgeordneten Reid aus Texas?«
»Ganz recht. Lisa wurde als Dexter Reid geboren. Mrs. Reid hat speziell Sie angefordert. Sie ist mit Ihrer ... äh, Geschichte vertraut.«
Sein Unbehagen amüsiert mich, doch ich lasse mir nichts anmerken.
Vor drei Jahren haben mein Team und ich einen Serienkiller gejagt, einen Psychopathen namens Joseph Sands. Wir waren ihm ganz dicht auf den Fersen, als er eines Nachts in mein Haus einbrach. Er fesselte mich an mein Bett und vergewaltigte mich wieder und wieder. Dann zerschnitt er mit einem Jagdmesser meine linke Gesichtshälfte, raubte mir für immer meine Schönheit und ließ eine unauslöschliche Reliefkarte aus Schmerz und Narbengewebe zurück.
Die Narbe fängt an meinem Haaransatz an, mitten auf der Stirn. Von dort verläuft sie senkrecht nach unten und zwischen den Augenbrauen hindurch, ehe sie in einem nahezu perfekten Neunzig-Grad-Winkel nach links wegführt. Ich habe keine linke Augenbraue mehr - die Narbe hat sie ersetzt. Von dort aus verläuft sie weiter über meine Schläfe und beschreibt eine träge Schlangenlinie über meine Wange nach unten. Von dort führt sie messerscharf zu meiner Nase und über den Nasenrücken und zieht sich über den Nasenflügel zum Kieferknochen, um von dort aus am Hals entlang bis zum Schlüsselbein zu verlaufen, wo sie endet.
Ich habe eine weitere Narbe, perfekt und gerade, die unter meinen linken Auge anfängt und sich bis zum Mundwinkel zieht. Sie ist das Geschenk eines anderen Psychopathen, der mich gezwungen hat, mir diese Wunde eigenhändig zuzufügen, mit einem Messer, während er mir sabbernd und grinsend zuschaute.
Das aber sind nur die sichtbaren Narben. Unter dem Kragen meiner Bluse gibt es weitere, hinterlassen von Mr. Sands'
Weitere Kostenlose Bücher