Renegade
Für das Wohl aller müssen Opfer gebracht werden.
Bürgerlicher Verhaltenskodex, Band VI â
Mein Leben ist absolut perfekt.
Jeden Morgen lässt
mich Mutter um Punkt zehn Uhr von den Dienstmädchen wecken. Dann nehme ich ein
leichtes Frühstück ein, anschlieÃend folgt der obligatorische Besuch bei meinem
Therapeuten.
Es
ist so schön, jemanden zu haben, mit dem man reden kann.
Später erwarten mich
dann die Pflichten, die Mutter mir anvertraut hat, doch bis dahin kann ich tun,
was immer ich will. An diesem Morgen sitze ich in meinem Garten und widme mich
still meiner Näharbeit. Im Garten ist es morgens immer so friedlich, besonders
wenn die Meeresbewohner auÃen an der Glaskuppel vorbeiziehen.
Die Oberfläche
könnte da nie und nimmer mithalten. Auch wenn ich die Oberfläche niemals
gesehen habe. Das ist sogar mir verboten.
Was auch gut ist.
Mein Leben ist absolut
perfekt.
Der Duft der Rosen,
Gardenien, Lilien und unzähliger anderer Blumen erfüllt die Luft. Im Vergleich
zum Rest der Anlage ist es hier dank der Sonnenlampen fast schwül. Durch die
Wärme und das unaufhörliche Summen der Bienen, die meine wundervollen Blumen
bestäuben, erwische ich mich öfter dabei, dass ich einnicke. Das Windspiel, das
mein Freund Timothy für mich gebaut hat, klimpert in dem leichten Luftzug aus
der Sauerstoffaufbereitungsanlage.
Timothy stammt aus
Sektor Drei. Sein Vater ist Metallarbeiter, und seine Mutter arbeitet in der
Kinderbetreuung, doch da er mein bevorzugter Verehrer ist, hat man ihm erlaubt,
in Sektor Zwei zu wohnen. Er wurde aufgrund seiner Gene als potenzieller
Kandidat für mich ausgewählt.
So
wird sichergestellt, dass in Elysium nur die Besten geboren werden.
Von den drei
Verehrern, die für mich ausgewählt wurden, mag ich ihn am liebsten. Er hat am
meisten Verständnis für meine ⦠Ãberspanntheit. In meinem Inneren breitet sich
ein warmes Kribbeln aus, und ich drücke lächelnd die Hand auf den Bauch. Ja,
Timothy ist mein Liebling.
An meinem Gesicht
flattert ein Schmetterling vorbei und reiÃt mich so aus meinen Gedanken.
SchlieÃlich landet er in den Heidelbeerbüschen, die mit weiÃen Blüten bedeckt
sind. Endlich ist Sommer, und die Tage werden länger. In meinem Garten wird es
nun noch wärmer sein, die Lichter werden noch länger brennen, und ich werde
mehr Zeit haben, mich mit meinen Blumen zu beschäftigen.
Im Hintergrund läuft
leise Musik, ein sanftes, hypnotisches Lied, das Geist und Seele entspannt.
Ãberall sind Wachen postiert, aber sie stören mich nicht weiter. Sie sind nun
einmal Teil des Lebens. Das ist der Preis des Friedens.
Ich entscheide mich
für einen kleinen Spaziergang durch meinen Garten. Immer wieder spielen meine
Finger an den Bundfalten meines Kleides herum. Ich biege auf einen der
gepflasterten Pfade ab, die wie Wagenspeichen vom äuÃeren Rundweg, der sich
direkt an der gläsernen Wand entlang zieht, zwischen den Beeten hindurch bis
zum Teich verlaufen, der genau in der Mitte des Gartens liegt.
Mein Leben ist absolut perfekt.
Unwillkürlich wende
ich mich den Rosen zu, als würde ihr Duft mich regelrecht anziehen. Neben
meiner Violine sind sie mein wertvollster Besitz. Sie erinnern mich an etwas. An
einen Duft, der am äuÃersten Rand meines Bewusstseins verankert ist. Die Erinnerung
ist zu vage, um greifbar zu sein, aber gleichzeitig zu stark, um sie zu
vergessen. Unbewusst streiche ich über das Amulett an meiner Halskette. Es hat
die Form einer Rose.
Das ist das Einzige,
was Mutter mir gelassen hat aus der Zeit, bevor sie mich adoptierte und zur
Tochter des Volkes machte. Wenn sie allerdings wüsste, dass es für mich
bedeutsamer ist als mein sonstiger Schmuck, würde es wahrscheinlich schnell
verschwinden.
Noch immer starre
ich auf die Rosen. Ich kann nicht widerstehen â nur eine Berührung. Dafür
wandere ich schlieÃlich durch diesen Garten.
Vorsichtig weicht
meine Hand den Dornen aus, ich pflücke eine Rose und hebe sie an die Nase. Tief
atme ich den betäubenden Duft ein und hoffe, dass er zusammen mit dem Amulett
meiner Erinnerung auf die Sprünge hilft.
Das
Amulett bringt zurück, was verloren war. Die Düfte schlieÃen die Lücken.
Plötzlich erscheinen
vor meinem inneren Auge eine Frau und eine jüngere Version von mir selbst. Ich
halte schockiert den Atem an, während sich in meinem Kopf ein
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