Das Bourne-Vermächtnis
Gotschijajew, Sie haben die Angreifer aufgespürt?«
»Das habe ich.«
»Allah leitet mich in allen Dingen; er leitet mich auch diesmal. Lassen Sie sie mich sehen.«
»Es ist nur einer«, antwortete Gotschijajew.
»Einer?«, rief Arsenow. »Wer? Hat er gewusst, dass wir Tschetschenen sind?«
»Ihr seid Tschetschenen?«, fragte eine dünne Stimme.
Hinter der Mauer tauchte das blasse Gesicht eines Jungen von kaum mehr als zehn Jahren auf. Er trug eine schmutzige Wollmütze, einen durchgewetzten Pullover über mehreren karierten Hemden, eine geflickte Hose und viel zu große rissige Gummistiefel, die er vermutlich einem Toten ausgezogen hatte. Obgleich er noch ein Kind war, hatte er die Augen eines Erwachsenen; sie beobachteten alles mit einer Mischung aus Vorsicht und Misstrauen. Er stand schützend über einer nicht detonierten russischen Rakete, die er geborgen hatte, um Brot kaufen zu können – vermutlich das Einzige, was zwischen seiner Familie und dem Hungertod stand. In der linken Hand hielt er eine Pistole; sein rechter Arm endete am Handgelenk. Murat sah gleich wieder weg, aber Arsenow starrte den Armstumpf weiter an.
»Eine Schützenmine«, sagte der Junge herzzerreißend nüchtern. »Von den Russenschweinen gelegt.«
»Allah sei gepriesen! Was für ein kleiner Soldat!«, rief Murat aus, indem er den Jungen mit seinem strahlenden, entwaffnenden Lächeln bedachte. Es war genau dieses Lächeln, das seine Leute angezogen hatte wie ein Magnet Eisenfeilspäne. »Komm, komm.« Er winkte ihn zu sich heran, hielt dann die leeren Handflächen hoch. »Wie du siehst, sind wir Tschetschenen wie du.«
»Wenn ihr Tschetschenen seid«, sagte der Junge, »wieso fahrt ihr dann mit russischen Schützenpanzern herum?«
»Wie kann man sich besser vor dem russischen Wolf verbergen, ha?« Murat kniff die Augen zusammen und lachte, als er sah, dass der Junge eine Gjursa hatte. »Du trägst die Pistole der russischen Elitetruppen. Solche Tapferkeit muss belohnt werden, stimmt’s?«
Murat kniete neben dem Jungen nieder und fragte ihn nach seinem Namen. Als er ihn erfahren hatte, fuhr er fort: »Asnor, weißt du, wer ich bin? Ich bin Chalid Murat, und auch ich möchte das russische Joch abschütteln.
Gemeinsam können wir’s schaffen, nicht wahr?«
»Ich wollte nie auf tschetschenische Landsleute schie
ßen«, sagte Asnor. Mit seinem verstümmelten Arm deutete er auf die Kolonne. »Ich hab gedacht, da käme eine satschistka. « Damit meinte er die von russischen Soldaten auf der Suche nach mutmaßlichen Rebellen durchgeführten barbarischen Säuberungen. Bei diesen satschistkas waren über zwölftausend Tschetschenen ermordet worden; zweitausend waren einfach verschwunden, unzählige andere waren verletzt, gefoltert, verstümmelt oder vergewaltigt worden. »Die Russen haben meinen Vater und meine Onkel ermordet. Wärt ihr Russen, hätte ich euch alle umgebracht.« Ein Krampf aus Wut und Verzweiflung
zog über sein Gesicht.
»Das glaube ich dir«, sagte Murat feierlich. Er zog einige Geldscheine aus der Tasche. Der Junge musste seine Pistole in den Hosenbund stecken, um die Scheine mit der Linken entgegenzunehmen. Murat beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte mit Verschwörermiene: »Pass auf, ich sage dir, wo du Munition für deine Gjursa kaufen kannst, damit du vorbereitet bist, wenn die nächste satschistka kommt.«
»Danke!« Asnor rang sich ein Lächeln ab.
Chalid Murat flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann stand er auf und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Allah sei mit dir, kleiner Soldat, und mit allem, was du tust.«
Der Tschetschenenführer und sein Stellvertreter beobachteten, wie der kleine Junge mit dem unter den Arm geklemmten Blindgänger über die Ruinen kletterte und verschwand. Dann kehrten sie zu ihrem Fahrzeug zurück.
Mit angewidertem Grunzen knallte Hassan die Panzerstahltür zu, um die Außenwelt – Asnors Welt – auszuschließen. »Bedrückt es dich nicht, dass du ein Kind in den Tod geschickt hast?«
Murat sah zu ihm hinüber. Der Schnee in seinem Bart war zu leicht zitternden Tropfen geschmolzen, sodass er in Arsenows Augen eher an einen Imam als an einen Kommandeur erinnerte. »Ich habe diesem Kind – das den Rest seiner Familie ernähren und kleiden und vor allem beschützen muss, als sei es ein Erwachsener – Hoffnung und ein bestimmtes Ziel gegeben. Kurz gesagt: Ich habe ihm einen Lebenszweck gegeben.«
Verbitterung machte Arsenows Gesicht blass und hart; er starrte Murat
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