Das Buch Der 1000 Wunder
deutlich aufzeigt. Historisch genommen ist das Witte-Modell ein substantielles Abbild, im Zug unserer Betrachtung ein Vorläufer des Michelson-Versuchs. Schnüre, die über zwei dreifache Räder laufen, ersetzen in äußerst sinnreicher Anordnung die Lichtstrahlen. Die natürlichen Verhältnisse reduzieren sich hier auf ein bequem zu betrachtendes und sicher zu deutendes Minimum; die normale Lichtgeschwindigkeit wird im Witte-Modell 4 Zentimeter in der Minute, der Äther-Orkan kommt (durch die Wirkung der Radwellen) mit 1 Zentimeter in der Minute zum Ausdruck. Der Betrieb des 260 Modells zeigt in Übereinstimmung mit der Rechnung ohne die Möglichkeit eines Irrtums oder Widerspruchs:
Die Hemmung hat das Übergewicht! Und eben das war es, was Michelson am wirklichen Lichtstrahl konstatieren wollte; mit Zuhilfenahme der Spiegelung und der sogenannten Interferenzerscheinungen, die eine so exakte Beobachtung gestatten, daß jenes Übergewicht der Hemmung im Experiment herausspringen mußte.
Das war das Wesen seiner Erwartung. Der genial angelegte, in seiner Feinheit weit über die Anforderungen hinausgehende Versuch mußte die Erfüllung bringen.
Da trat das zweite Wunder in die Erscheinung: der gesuchte Effekt bliebe vollständig aus! Keine Wirkung des Ätherstroms, keine Wirkung der Translation, kein Übergewicht der Hemmung – – nichts!
Was aus diesem Nichts emporsteigen sollte war, im Namen der modernen Relativitätstheorie zusammengefaßt: das Primat der Lichtgeschwindigkeit als des entscheidenden Faktors im Weltgeschehen, die Umgestaltung der altklassischen Mechanik, die Vertiefung aller physikalischen Grundgesetze – ein neues wissenschaftliches Weltbild! (Siehe den folgenden Abschnitt.)
189. Die »Raumzeitwelt«
Quellen: Albert Einstein: »Die Relativitätstheorie« in der Sammlung »Kultur der Gegenwart«, Band »Physik« unter Redaktion von E. Warburg. Verlag B. G. Teubner, Leipzig, 1915. – Albert Einstein: »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«. »Annalen der Physik«, Verlag von Ambrosius Barth, Leipzig, 1905. – E. Wiechert: »Die Mechanik im Rahmen der allgemeinen Physik«, Abhandlung in der »Physik«. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig. – Alexander Moszkowski , Aufsatz: »Das Relativitätsproblem« im »Archiv für systematische Philosophie«, herausgegeben von Ludwig Stein, 1911. – Dr. Hans Witte: »Raum und Zeit im Lichte der neueren Physik«. Verlag von Vieweg & Sohn, Braunschweig, 1914. – Max Born: »Einsteins Theorie der Gravitation und der allgemeinen Relativität«, »Physikalische Zeitschrift«, 17. Jahrgang. Verlag S. Hirzel, Leipzig. – Dr. Max Planck: »Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung«. Verlag S. Hirzel, Leipzig, 1910.
Hätte der im vorhergehenden Abschnitt geschilderte Versuch des Professors Michelson die Erwartung der Experimentierenden restlos erfüllt, so würde man darin eine schöne Bestätigung der gültigen Naturgesetze erblickt haben. Der vollkommen negative Erfolg nötigte zu einer anderen Auffassung. Da der Versuch als absolut genau anerkannt ward, mußte etwas anderes ungenau sein. Und in hartem Kampf mit ererbtem und erworbenem Denken entschlossen sich mehrere scharfsinnige Forscher zu einem radikalen Denkschritt:
Tatsächlich – anderes ist ungenau; und dieses andere sind die bis jetzt anerkannten Formen der Naturgesetze. In jenem Versuch trat ein Fehler zu Tage, und dieser war nur auf einem Weg zu beseitigen: durch die Annahme, daß der bisherige Ausdruck der großen Physikgesetze nicht absolut, sondern nur »in Annäherung« gültig sei. Konnte es gelingen, eine genauere Annäherung zu finden, dergestalt daß der Fehler verschwand, so öffnete sich ein neuer Weg für die Naturerkenntnis, vielleicht der von Denkern vorgeahnte »königliche Weg«. Es gelang! Der königliche Weg tat sich auf, und beim Fortschreiten aus ihm blickte das Auge in eine neue Welt, in der Raum und Zeit zu einer organischen 261 Einheit verschmolzen. Diejenigen Forscher, die sich in dieser vierdimensionalen Welt zurechtzufinden wußten, entschleierten Rätsel auf Rätsel, die bisher allen Anstrengungen der Physiker und Erkenner getrotzt hatten.
Der Begriff der »Annäherung« möge an einem Beispiel bildlich erörtert werden.
Ein ruhendes Gewässer, etwa die Oberfläche eines großen Binnensees, ist in »erster Annäherung« eine Ebene. Für die gewöhnliche Orientierung auf ihr reicht diese Annahme vollkommen aus, und man gerät mit
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