Das Buch Der 1000 Wunder
keinem Naturgesetz in Widerspruch, wenn man an der Ebenheit des Wasserspiegels nicht zweifelt.
Aber vor einer gesteigerten Feinheit der Beobachtung hält diese Annahme nicht mehr Stand. Man muß da festsetzen: der Wasserspiegel ist nicht eben, sondern bildet den Teil einer Kugeloberfläche; weil sich ja die Form des Sees der Kugelform der Erde anschmiegt. Und diese »zweite Annäherung« muß vollzogen werden, um gewisse Erscheinungen zu erörtern, die bei gewöhnlicher Orientierung garnicht in Frage kommen.
Aber die Erde ist ja, noch genauer definiert, keine Kugel, sondern exakt gesprochen ein Rotationsellipsoid. Und auch dieser Eigenschaft paßt sich das Gewässer an. Der Seespiegel ist also in »dritter Annäherung« Teil einer ellipsoidischen Fläche.
Eine vierte Annäherung wäre denkbar. Die Atome in der Oberschicht des Wassers ordnen sich überhaupt nicht nach dem üblichen Begriff irgend einer Fläche, die doch einen regelmäßigen, stetigen Zusammenhang voraussetzt. Mit nonplusultramikroskopischen Augen bewaffnet, würden wir die atomistische Struktur des Wasserspiegels erkennen, für welche die elementaren Flächenbegriffe gar nicht ausreichen. Erst bei dieser »vierten Annäherung« würde vielleicht eine vollkommene Exaktheit erreicht werden.
Dieses Wasserspiegel-Gleichnis leite zu den Naturgesetzen über. Wohl wußte man schon lange, daß manche von ihnen (wie z. B. das Gasgesetz von Mariotte) nicht durchgreifend richtig waren. Aber an den Grundgesetzen der klassischen Mechanik wagte man nicht zu rütteln. In Sonderheit standen die von Newton ausgesprochenen, durch Gleichungen formulierten Gesetze in absoluter Sicherheit da und so unverrückbar wie etwa der pythagoreische Lehrsatz.
Bis man auf dem königlichen Weg erkannte, daß auch hier nur Näherungswerte vorlagen, Korrekturen erheischend, die zur allertiefsten Erkenntnis führen.
Die neuen Annäherungen in jenen Grundgesetzen ergeben sich, wenn man statt der dreidimensionalen Welt, in der wir zu leben meinen, eine vierdimensionale annimmt, in der die Zeit genau dieselbe Rolle spielt, wie die Länge, Breite und Höhe; in der wir für unsere Vorstellung nicht mehr getrennte 262 Projektionen empfangen, Raum einerseits – Zeit anderseits, sondern für jede einzelne Wahrnehmung: Raumzeit.
Der Nullpunkt der Zeit, der unaufhörlich sich verschiebende Gegenwartspunkt, auf den wir alle Erlebnisse beziehen, wird ungültig. Genau so ungültig wie ein angenommener Nullpunkt im unendlichen Raum. Die Frage nach einem solchen räumlichen Orientierungspunkt im Unbegrenzten, aus den man die Lage anderer existierender, sich bewegender Körper beziehen könnte, wäre an sich sinnlos. Und so müssen wir uns analog auch entschließen – wenn auch in einem geradezu athletischen Denkakt – von dem uns so geläufigen Gegenwartspunkt der Zeit loszukommen.
In der vierdimensionalen Welt ist das möglich, vornehmlich deshalb, weil in ihr der Begriff der »Gleichzeitigkeit«, den wir sonst als etwas Gegebenes und Selbstverständliches betrachten, sich als ein Phantom erweist. Die »Zeit« hat ihr Absolutes verloren, sie ist relativiert, und eine Zeitangabe erhält nunmehr erst dann einen bestimmten Sinn, wenn sie auf einen bestimmten Beobachter und dessen Geschwindigkeit bezogen wird. Zwei Ereignisse, die chronometrisch für eine Beobachtung als gleichzeitig gelten, zerfallen, anders bezogen, in Ungleichzeiten, mit veränderlichem Vorher und Nachher. Aller Geschwindigkeit übergeordnet wird die Lichtgeschwindigkeit, die in allen Geschehnissen nicht nur als ein begleitender, loszulösender Umstand, sondern als wesenbestimmender Faktor auftritt. Alle Erscheinungen einschließlich der körperlichen Form und Masse werden relativiert, alle erweisen sich als abhängig von der eigenen Geschwindigkeit in unauflöslicher Verbindung mit dem Lichttempo.
Anders werden die Fragen an die Natur in dieser Welt gestellt, anders beantwortet. Es entschleiert sich eine elektromagnetische Welt, welche die altmechanische in sich aufnimmt und sie auch dort noch erklärt, wo die früheren Erkenntnismethoden Unstimmigkeiten übrig ließen oder ganz versagten. Selbst die für unerschütterlich gehaltene Gravitationslehre nimmt ein anderes Gesicht an und findet neue Annäherungen an die Wahrheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: in der Bahn der Planeten bliebe allen astronomischen Berechnungen zum Trotz bis in die neuesten Zeiten ein Element unerklärlich. Es war das Fortschreiten des Perihels
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