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Das Buch meiner Leben

Das Buch meiner Leben

Titel: Das Buch meiner Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Heamon
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hatte, doch auch der Bus war verschwunden. In seinem holprigen Englisch fuhr er den Rezeptionisten an. Er befragte Gäste und Hotelangestellte, die sich zufällig in der Lobby aufhielten. Sein Hemd war mittlerweile klatschnass, er selbst schien vor einem Herzinfarkt zu stehen. Meine Mutter, die bislang in der Lobby gesessen und mit einem Zauberwürfel gespielt hatte, redete beruhigend auf ihn ein. Wir hätten ja noch unsere Pässe, sagte sie, nur das Geld sei gestohlen worden. (Da wir aus dem gelobten Land des Sozialismus kamen, besaßen wir keine Kreditkarten.) Kristina und ich erschraken: mehrere tausend Dollar, unser ganzes Feriengeld.
    Wir waren also in einer unbekannten italienischen Stadt, ohne einen Pfennig Geld, den Tagesausflug nach Rom konnten wir vergessen, erst recht Afrika und die Safari. Die Aussicht, nach Sarajevo zurückkehren zu müssen, war real und niederschmetternd. Gegenüber vom Hotel erstreckte sich eine lange Mauer, über die hässliche, durstige Bäume die gestrandeten Touristen anstarrten. Vater telefonierte mit seinen Kollegen in Zaire, um ihnen mitzuteilen, dass wir irgendwo in Italien mittellos festsaßen, in der Hoffnung, dass sie ihn irgendwie aus diesem Schlamassel herausholen und ihm eine Reisemöglichkeit nach Zaire oder zurück nach Sarajevo organisierten. Er erfuhr, dass der Flug nach Kinshasa gestrichen worden war, weil ein kongolesischer General das Zeitliche gesegnet und der Diktator Mobutu alle drei interkontinentalen Flugzeuge von Air Zaire requiriert hatte, um mit seiner vielköpfigen Entourage zur Beerdigung zu fliegen.
    Am nächsten Tag analysierte mein Vater noch immer jeden Moment der unglückseligen Reise, von der Fahrt zum Flughafen bis zur Rezeption, um zu erkennen, wo der clevere Dieb zugeschlagen hatte, denn dann würde er ihn identifizieren können. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass der Diebstahl an der Rezeption stattgefunden haben musste. Er rekonstruierte den Ablauf der Ereignisse: Er hatte seine Tasche auf dem Tresen abgestellt, während er die Anmeldeformulare ausfüllte, und als er sich umdrehte, um uns zuzuzwinkern, hatte der Rezeptionist die Tasche rasch unter den Tresen geschoben. Also setzte sich mein Vater in die Lobby, beobachtete aufmerksam den Rezeptionisten, einen harmlos aussehenden jungen Mann, und wartete darauf, dass er einen verräterischen Fehler machte.
    Kristina und ich saßen untätig herum. Da unser Walkman zwei Kopfhörerbuchsen hatte, konnten wir gemeinsam Musik hören. Wir machten den Fernseher auf unserem Zimmer an, aber die Filme waren italienisch synchronisiert (was uns allerdings den wunderbaren Anblick von John Wayne bescherte, der mit einem » Buon giorno! « in einen Saloon voller Halunken marschierte). Wir liefen durch die unbekannte Stadt, trotz allem aufgeregt, diese neue Welt kennenzulernen: der leichte Meergeruch, als läge die Stadt direkt am Wasser, die prächtige Einrichtung des Pastageschäfts an der Ecke, die unglaublich roten Tomaten und der Marktlärm, die Geschäfte vollgepackt mit Dingen, nach denen sozialistische Teenager sich sehnten (Rockmusik, Jeans, Eis), Lokale, in denen laute Männer Wiederholungen von WM -Spielen sahen und den Triumph ihrer Mannschaft feierten. (Ich wollte das Endspiel noch einmal sehen, wollte Marco Tardelli sehen, der nach dem zweiten Tor in lautes Siegesgebrüll ausbrach, aber Kristina hatte keine Lust.) Als mittags die ganze Stadt zur Siesta dichtmachte, liefen wir einer Gruppe braungebrannter junger Leute hinterher, in der Annahme, dass es dort, wohin sie gingen, sicher lustig war, und wir endeten ganz unerwartet an einem Strand. Es stellte sich heraus, dass die Stadt Ostia hieß und tatsächlich am Meer lag.
    Als wir von unserer Expedition zurückkehrten und die gute Nachricht überbringen wollten, sahen wir unseren Vater schwitzend in der Lobby sitzen und, wie ein selbsternannter Hoteldetektiv, den Rezeptionisten von weitem wachsam anstarren. Noch immer war es ihm nicht gelungen, den Verdächtigen bei einem erneuten Diebstahl zu erwischen oder Beweismaterial zusammenzutragen. Aus unserer Sicht war sein Ansehen als Führer leider ramponiert. Als wir verkündeten, dass wir Meerwasser entdeckt hätten, ließ Mutter von ihrem Zauberwürfel ab und übernahm das Kommando.
    Zuerst ging sie mit uns in ein Juweliergeschäft, das wir in der Nähe entdeckten, und versetzte dort nach langem Feilschen ihre heißgeliebte goldene Halskette. Dann verteilte sie das Geld. Vater bekam aus naheliegenden

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