Das Buch meiner Leben
Das Leben der anderen
1. Wer ist das?
Am Abend des 27. März 1969 war mein Vater in Leningrad, wo er sein Aufbaustudium im Fach Elektrotechnik absolvierte. Meine Mutter war zu Hause in Sarajevo, sie lag in den Wehen, umgeben von Freundinnen, die ihr beistanden. Sie hielt die Hände auf ihrem runden Bauch, seufzte und stöhnte, aber ihre Freundinnen schienen nicht übermäßig besorgt. Ich selbst, exakt viereinhalb Jahre alt, lief um sie herum, versuchte, ihre Hand zu halten oder auf ihren Schoß zu klettern, bis ich schließlich ins Bett geschickt wurde. Ich widersetzte mich der Anweisung, um den Fortgang der Dinge durch das (sozusagen Freud’sche) Schlüsselloch zu verfolgen. Natürlich hatte ich Angst, denn obwohl ich wusste, dass ein Baby in ihrem Bauch war, war mir nicht ganz klar, wie das alles genau funktionieren würde, was mit ihr, mit uns, mit mir passieren würde. Als sie schließlich unter ersichtlichen und hörbaren Schmerzen ins Krankenhaus gebracht wurde, plagten mich schreckliche Gedanken, die Teta Jozefina mit der Versicherung zu entkräften suchte, dass meine Mutter nicht sterben, sondern mit einem Brüderchen oder Schwesterchen heimkehren werde. Ich wollte unbedingt, dass meine Mutter heimkehrte, ich wollte kein Brüderchen und kein Schwesterchen, alles sollte bleiben, wie es war, wie es schon immer gewesen war. Die Welt hatte harmonischerweise mir gehört, die Welt und ich waren im Grunde eins.
Aber nichts ist mehr so, wie es einmal war. In Begleitung einiger Erwachsener (deren Namen und Gesichter auf den schwankenden Boden eines alternden Gedächtnisses gesunken sind – ich weiß nur, dass mein Vater nicht dabei war, da er sich noch in der Sowjetunion aufhielt) holte ich ein, zwei Tage später meine Mutter aus dem Krankenhaus ab. Ich erinnere mich, dass sie längst nicht so froh war über das Wiedersehen wie ich. Auf der Rückfahrt saß ich neben ihr und einem angeblich lebendigen Bündel, das meine Schwester war. Das Gesicht dieser angeblichen Schwester war furchtbar zerknittert, war nur eine hässliche, undefinierbare Fratze. Und es war dunkel, wie mit einer Rußschicht überzogen. Als ich mit dem Finger über ihre Wange fuhr, zeichnete sich eine helle Linie ab. » Sie ist dreckig « , verkündete ich, aber keiner der Erwachsenen nahm Kenntnis von dem Problem. Künftig würde es schwer sein, mir Gehör zu verschaffen und meine Bedürfnisse durchzusetzen – und an Schokolade zu kommen.
Mit der Ankunft meiner rußbedeckten angeblichen Schwester begann eine schmerzvolle, einsame Phase meiner frühkindlichen Entwicklung. Scharen von Menschen (deren mitgebrachte Schokolade mir verwehrt blieb) erschienen bei uns zu Hause, beugten sich über meine Schwester und gaben groteske Laute von sich. Niemand interessierte sich für mich. Dabei war die ihr entgegengebrachte Aufmerksamkeit empörenderweise völlig unverdient. Sie schlief nur und weinte und bekam regelmäßig eine frische Windel. Ich dagegen konnte schon einfache Wörter lesen, konnte flüssig sprechen und wusste allerlei interessante Dinge. Ich kannte die Fahnen verschiedener Länder, konnte mühelos zwischen wilden Tieren und Haustieren unterscheiden, überall im Haus waren hübsche Fotos von mir. Ich besaß Kenntnisse, ich hatte Ideen, ich wusste, wer ich war. Ich war ich, und alle liebten mich.
So schwierig die Existenz meiner Schwester für mich auch war – eine Zeitlang war sie einfach etwas Neues, das zwischen mir und meiner Mutter stand, wie ein neues Möbelstück oder eine verkümmerte Topfpflanze. Doch dann wurde mir klar, dass sie bleiben und für immer im Weg sein würde, dass die Liebe meiner Mutter zu mir vielleicht nie wieder das gewohnte alte Maß erreichen würde. Meine neue Schwester drängte sich nicht nur in meine Welt, sie behauptete sich – obwohl sie nicht einmal ich sagen konnte – in ihrem Zentrum. In unserem Haus, in meinem Leben, im Leben meiner Mutter, jeden Tag, die ganze Zeit, immer war sie da – das rußverdreckte Nicht-Ich, das Andere.
Also beschloss ich, sie bei der erstbesten Gelegenheit zu beseitigen. Eines Frühlingstages war ich allein mit ihr in der Küche, nachdem das Telefon geklingelt hatte und meine Mutter hinausgegangen war. Da mein Vater noch immer in Russland war, sprach sie wahrscheinlich mit ihm. Sie blieb eine Weile außer Sichtweite, während ich das kleine Wesen beobachtete, das Gesicht, in dem nichts zu lesen war, das Fehlen von Gedanken und Persönlichkeit, ihre offenkundige
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