Das Chagrinleder (German Edition)
morgen erst zwanzig Minuten vor zwölf Uhr.«
»Ich will von Pauline geliebt werden!« rief er am nächsten Tag und blickte mit unbeschreiblicher Angst auf den Talisman.
Das Leder bewegte sich nicht um ein Haarbreit, es sah aus, als hätte es seine Kraft, sich zusammenzuziehen, eingebüßt. Ohne Frage konnte es einen Wunsch, der schon erfüllt war, nicht noch einmal erfüllen.
»Ah!« rief Raphael. Er fühlte sich wie von einem bleiernen Mantel befreit, der seit dem Tage, an dem er den Talisman erhalten hatte, auf ihm lastete.
»Du lügst«, rief er aus, »du gehorchst mir nicht, der Pakt ist gebrochen! Ich bin frei, ich werde leben. Alles war nur ein schlechter Scherz.«
Während er diese Worte sprach, wagte er nicht, an seine eigenen Gedanken zu glauben. Er kleidete sich so einfach wie früher und ging zu Fuß in seine einstige Wohnung. Unterwegs versuchte er, sich in jene glücklichen Tage zurückzuversetzen, wo er sich gefahrlos seinen rasenden Begierden überlassen konnte, wo er noch nicht allen menschlichen Freuden abgeschworen hatte. So ging er seines Wegs, sah Pauline vor sich, nicht mehr die Pauline des Hotel Saint-Quentin, sondern die des vergangenen Abends, diese vollendete Geliebte, die er so oft erträumt hatte, ein kluges, liebevolles junges Mädchen, das künstlerisches Gefühl besaß, Dichter und Dichtung verstand und im Luxus lebte; mit einem Wort: Fœdora, nur mit einer schönen Seele begabt, oder Pauline als Comtesse und zweifache Millionärin, wie Fœdora es war. Als er auf der abgetretenen Schwelle stand, auf der zerbrochenen Fliese an dieser Tür, wo er so oft mit seinen verzweifelten Gedanken gestanden hatte, trat eine alte Frau aus dem Vorsaal und fragte ihn:
»Sind Sie nicht Monsieur Raphael de Valentin?«
»Jawohl, gute Frau«, antwortete er.
»Sie kennen Ihr altes Zimmer«, fuhr sie fort, »Sie werden dort erwartet.«
»Wird dieses Haus nicht mehr von Madame Gaudin geführt?« fragte Raphael.
»O nein, Monsieur, Madame Gaudin ist jetzt Baronin. Sie wohnt in einem schönen Haus, das ihr gehört, auf der anderen Seite des Flusses. Ihr Mann ist zurückgekehrt. Ja, sehen Sie, der hat einen schönen Batzen Geld mitgebracht. Die Leute sagen, sie könnte das ganze Quartier Saint-Jacques kaufen, wenn sie wollte. Sie hat mir die ganze Einrichtung und die restliche Pacht umsonst überlassen. Ja, sie ist eine gute Frau geblieben. Sie ist heute nicht stolzer, als sie gestern war.«
Raphael stieg langsam zu seiner Mansarde hinauf. Als er die letzten Treppenstufen erreichte, hörte er die Klänge des Klaviers. Pauline war da; sie trug ein einfaches Kattunkleid; aber der Schnitt des Kleides, die Handschuhe, der Hut, der Schal, nachlässig aufs Bett geworfen, sprachen von großem Reichtum. »Aber da sind Sie ja!« rief Pauline und wandte sich um. Sie sprang rasch auf und verhehlte ihre Freude nicht. Raphael setzte sich neben sie. Er war errötet, beschämt, glücklich. Er betrachtete sie, ohne ein Wort zu sagen.
»Warum haben Sie uns denn verlassen?« fragte sie, schlug die Augen nieder, und purpurne Röte überzog ihr Antlitz. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ach, Pauline, ich war sehr unglücklich und bin es noch!«
»Ach!« rief sie bewegt; »ich habe Ihr Schicksal gestern abend geahnt. Ich sah, wie fein Sie gekleidet waren, wie reich Sie aussahen, aber in Wirklichkeit, nicht wahr, Monsieur Raphael, ist es immer noch wie früher?«
Valentin konnte die Tränen nicht zurückhalten, die aus seinen Augen rollten. »Pauline! ...« rief er. »Ich ...«
Er brach ab. Seine Augen strahlten vor Liebe, und sein ganzes Herz lag in seinen Blicken.
»Oh! Er liebt mich! Er liebt mich!« rief Pauline.
Raphael nickte stumm. Er fühlte sich außerstande, ein einziges Wort hervorzubringen. Bei dieser Bewegung ergriff das junge Mädchen seine Hand, drückte sie und sagte bald lachend, bald schluchzend: »Wir sind reich, reich, glücklich und reich! Deine Pauline ist reich! Aber heute müßte ich eigentlich sehr arm sein. Ich habe tausendmal gesagt, ich wollte für dieses Wort: »Er liebt mich!« alle Schätze der Erde geben. O mein Raphael! Ich besitze Millionen. Du liebst den Luxus, du sollst zufrieden sein; aber du mußt auch mein Herz lieben; es lebt soviel Liebe für dich darin! Du weißt es noch nicht? Mein Vater ist zurückgekommen. Ich bin eine reiche Erbin. Meine Mutter und er überlassen es mir, über mein Leben frei zu bestimmen; ich bin frei, verstehst du?«
Raphael war wie im Taumel; er hielt
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