Das Chagrinleder (German Edition)
schallen scheint, der Blässe auf die Stirn des Kranken treibt, ihn am ganzen Leibe zitternd und in Schweiß gebadet zurückläßt, seine Nerven aufwühlt, den Brustkorb erschüttert, sein Rückenmark überanstrengt und bleierne Schwere in seinen Adern verbreitet hat. Niedergeschlagen und bleich ließ sich Raphael auf sein Bett sinken, er war erschöpft wie ein Mensch, der seine ganze Kraft in einer letzten Anstrengung verbraucht hat. Pauline sah ihn mit starren, angstvoll geweiteten Augen an. Sie blieb regungslos, blaß und stumm.
»Wir dürfen keine Torheiten mehr anstellen, Liebster«, sagte sie schließlich, um Raphael die furchtbaren Vorahnungen, die sie befielen, zu verbergen.
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Das gräßliche Gerippe des Todes stand vor ihr. Raphaels Antlitz war fahl und hohl wie ein Schädel, der für die Studien eines Gelehrten dem Schlund des Kirchhofs entrissen worden ist. Pauline fiel Valentins Ausruf vom Vorabend ein, und sie sprach zu sich selbst: »Ja, es gibt Abgründe, die die Liebe nicht überwinden kann, aber sie muß in ihnen versinken.«
Ein paar Tage nach dieser trostlosen Szene saß Raphael an einem Märzmorgen in seinem Lehnstuhl. Vier Ärzte standen um ihn herum, die ihn ans Fenster seines Schlafzimmers hatten rücken lassen, wo es hell war, und ihm nacheinander den Puls befühlten, ihn abklopften und mit scheinbarem Interesse befragten. Der Kranke suchte aus ihren Gesten und den kleinsten Falten auf ihrer Stirn ihre Gedanken zu erraten. Diese Konsultation war seine letzte Hoffnung. Diese höchsten Richter sollten sein Urteil sprechen: Leben oder Tod. Um der menschlichen Wissenschaft das letzte Wort zu entreißen, hatte Valentin die Orakel der modernen Medizin berufen. Dank seinem Vermögen und seinem Namen befanden sich die drei Systeme, zwischen denen sich das menschliche Wissen bewegt, hier vor ihm. Drei von diesen Doktoren trugen die ganze ärztliche Philosophie mit sich herum und repräsentierten den Kampf, den der Spiritualismus, die Analyse und ein gewisser spöttischer Eklektizismus untereinander führen. Der vierte Arzt war Horace Bianchon, ein Mann der Zukunft und reicher Kenntnisse, vielleicht der ausgezeichnetste unter den neuen Ärzten, der kluge und bescheidene Vertreter der forschenden Jugend, die sich anschickt, die Erbschaft der seit 50 Jahren von der École de Paris angehäuften Schätze anzutreten, und die vielleicht das Monument errichten wird, zu dem die früheren Jahrhunderte soviel verschiedenes Material zusammengetragen haben. Er war ein Freund des Marquis und Rastignac und hatte vor mehreren Tagen seine Behandlung übernommen. Jetzt half er ihm, die Fragen der drei Professoren zu beantworten, die er zuweilen mit einiger Dringlichkeit auf die Symptome hinwies, die ihm eine Lungenschwindsucht anzuzeigen schienen.
Sie haben ohne Zweifel sehr ausschweifend gelebt, haben, wie man so sagt, ein tolles Leben geführt und haben sich auch großen geistigen Anstrengungen gewidmet?« fragte einer der drei berühmten Doktoren, dessen eckiger Kopf, wuchtige Gestalt und energisches Auftreten auf eine geistige Überlegenheit über seine beiden Gegner schließen ließ.
»Ich wollte mich durch Ausschweifung zugrunde richten, nachdem ich drei Jahre lang an einem großen Werk gearbeitet habe, mit dem Sie sich vielleicht einmal beschäftigen werden«, antwortete ihm Raphael. Der große Arzt nickte mit dem Kopf als Zeichen seiner Zufriedenheit, als hätte er sich selbst gesagt: »Ich wußte es!«
Dieser Arzt war der erlauchte Brisset, das Haupt der Organizisten, [Fußnote: Organizisten : Vertreter einer medizinischen Doktrin, die jede Krankheit auf ein geschädigtes Organ zurückführt] der Nachfolger der Cabanis [Fußnote: Cabanis , Georges (1757-1808): französischer Arzt u. Philosoph] und Bichats, ein Vertreter der positivistischen und materialistischen Schule, die im Menschen ein endliches Wesen sieht, das lediglich den Gesetzen seiner eigenen Organisation unterworfen ist und dessen normaler Zustand oder schädliche Anomalien sich aus unverkennbaren Ursachen erklären lassen.
Nach dieser Antwort sah Brisset schweigend auf einen untersetzten Mann, dessen hochrotes Gesicht und glühendes Auge einem alten Satyr zu gehören schienen. Er lehnte mit dem Rücken an der Ecke der Fensternische und betrachtete Raphael aufmerksam, ohne ein Wort zu sagen. Doktor Cameristus war ein schwärmerischer und gläubiger Mann, Führer der Vitalisten [Fußnote: Vitalisten :
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