Das Chagrinleder (German Edition)
ich bin kein menschgewordener Magen! Nein, da sitzt nicht alles. Ich habe nicht den Mut, zu behaupten, daß, wenn meine Verdauung klappt, alles übrige Nebensache sei. Wir können«, fuhr er dann ruhiger fort, »die schweren Störungen, die bei verschiedenen Menschen mehr oder weniger heftig auftreten, nicht auf die nämliche physische Ursache zurückführen und dürfen sie nicht einförmig behandeln. Kein Mensch ist dem anderen gleich. Wir haben alle besondere Organe, die verschiedene Wirkungen hervorbringen, verschiedene Lebensgrundlagen brauchen, die verschiedene Aufgaben erfüllen und einer Bestimmung folgen, welche zur Vollendung einer uns noch unbekannten Ordnung der Dinge erforderlich ist. Der Teil des großen Ganzen, der gemäß einem höheren Willen in uns das Phänomen des Lebens bewirkt und unterhält, hat in jedem Menschen seine eigene Ausdrucksform und macht aus ihm ein Wesen, das anscheinend endlich ist, das aber in einem Punkt mit einer unendlichen Ursache verbunden ist. Demzufolge müssen wir jedes Subjekt gesondert studieren, es durchdringen, erkennen, worin sein Leben besteht, welche besondere Kraft ihm eigen ist. Von der Weichheit eines nassen Schwammes bis zur Härte eines Bimssteins gibt es unendliche Abstufungen. So ist es auch mit dem Menschen. Zwischen der schwammigen Organisation lymphatischer Menschen und der metallischen Muskelhärte derjenigen, die zu einem langen Leben bestimmt sind, was für Irrtümer begeht da nicht das einzige, unabänderliche System der Heilung durch Schwächung, durch völlige Erschöpfung der menschlichen Kräfte, die Sie stets für gereizt halten! Im vorliegenden Fall also würde ich eine rein seelische Behandlung vorschlagen, eine tiefgehende Prüfung des inneren Wesens. Suchen wir den Sitz des Übels in den Eingeweiden der Seele statt in den Eingeweiden des Körpers! Ein Arzt ist ein erleuchtetes Wesen, das mit einer besonderen Gabe begnadet ist: Gott hat ihm die Macht verliehen, in der Lebenskraft zu lesen, wie er den Propheten Augen gibt, die Zukunft zu schauen, dem Dichter das Talent, die Natur zu beschwören, dem Musiker die Kunst, die Töne in einer harmonischen Ordnung aneinanderzureihen, deren Vorbild vielleicht dort droben ist! ...«
»Immer seine absolutistische, monarchistische und religiöse Medizin«, murmelte Brisset.
»Messieurs«, meldete sich Maugredie rasch zu Wort, so daß Brissets Einwand nicht weiter beachtet wurde, »wir dürfen den Kranken nicht aus dem Auge verlieren ...«
»So steht es also mit der Wissenschaft!« rief Raphael verzweifelt in seinem Versteck. »Der eine bringt mir einen Kranz von Blutegeln und der andere einen Rosenkranz zur Heilung; ich habe die Wahl zwischen dem Messer Dupuytrens [Fußnote: Dupuytren , Guillaume (1777-1835): französischer Chirurg] und dem Gebet des Prinzen von Hohenlohe! [Fußnote: Prinzen von Hohenlohe : Alexander Leopold, Prinz von Hohenlohe-Waldenburg (1794-1849), wurde bekannt durch seine ›Wunderkuren‹, die er im Glauben an die Macht seines Gebetes durchführte] Und auf der Linie, die die Tatsache vom Wort, die Materie vom Geiste trennt, steht Maugredie und zweifelt. Das Ja und Nein der Menschen verfolgt mich immer! Überall das ›Carymary, Carymara‹ des Rabelais: ich bin geistig krank, Carymary! Oder körperlich krank, Carymara! Ob ich am Leben bleibe? Sie wissen es nicht. Da war doch Planchette ehrlicher, als er mir sagte: Ich weiß nicht.«
In diesem Augenblick vernahm Valentin die Stimme des Doktor Maugredie: »Der Kranke ist ein Monomane, schön, einverstanden!« rief er; »aber er hat zweimal 100000 Livres jährlich. Monomanen der Art sind selten, und wir schulden ihnen mindestens einen Rat. Was die Frage angeht, ob sein Epigastrium auf das Hirn gewirkt hat oder das Hirn auf sein Epigastrium, so können wir sie vielleicht nach seinem Tode beantworten. Machen wir es also kurz. Daß er krank ist, ist nicht zu bestreiten. Irgendwie muß er also behandelt werden. Lassen wir die Lehrmeinungen beiseite. Setzen wir ihm Blutegel an, um die innere Reizung und die Neurose, über deren Vorhandensein wir uns einig sind, zu beseitigen, und dann schicken wir ihn in ein Bad; auf diese Weise wenden wir beide Systeme zugleich an! Ist er schwindsüchtig, dann können wir ihn sowieso kaum retten; also ...«
Raphael verließ schnell sein Versteck und begab sich wieder in seinen Lehnstuhl. Bald kamen die vier Ärzte aus dem Arbeitszimmer. Horace führte das Wort und sagte zu ihm: »Die Herren haben
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