Das Chagrinleder (German Edition)
bestritten sehen; erstens ist sie bestimmt und sicher; sie resultiert aus einer völligen Ähnlichkeit zwischen einem meiner Kranken und dem Patienten, zu dessen Untersuchung wir hierher gerufen worden sind; zweitens erwartet man mich in meiner Klinik. Der Fall, der meine Anwesenheit dort erforderlich macht, ist so wichtig, daß Sie entschuldigen, wenn ich als erster das Wort ergreife. Das »Subjekt«, mit dem wir es zu tun haben, ist in gleicher Weise von geistigen Arbeiten erschöpft ... Was hat er denn geschrieben, Horace?« Damit wandte er sich an den jungen Arzt.
»Eine Theorie des Willens!«
»Donnerwetter! das ist freilich ein weitreichendes Thema! Er ist, sage ich, durch übermäßige Geistesarbeit, durch eine unvernünftige Lebensweise, durch die wiederholte Anwendung zu starker Stimulantien erschöpft. Die ständige Aufpeitschung des Körpers wie des Gehirns hat die Tätigkeit des ganzen Organismus durcheinandergebracht. Messieurs, es ist leicht, in den Symptomen des Gesichtsausdrucks und des Körpers eine starke Reizung des Magens, die Neurose des großen Sympathikus, die lebhafte Empfindlichkeit des Epigastriums und die Verengung des Hypochondriums zu erkennen. Sie haben die Anschwellung und das Hervortreten der Leber bemerkt. Schließlich hat Monsieur Bianchon die Verdauung seines Patienten ständig beobachtet und uns mitgeteilt, daß sie schwer und mühsam ist. Genaugesagt ist kein Magen mehr da; der eigentliche Mensch ist verschwunden. Der Intellekt ist geschwächt, weil der Mann nicht mehr verdaut. Die fortschreitende Veränderung des Epigastriums, des Zentrums des Lebens, hat das ganze System gestört. Von dort werden die dauernden und unbestreitbaren Störungen ausgestrahlt; sie haben durch das Nervengeflecht auf das Hirn übergegriffen, daher die außerordentliche Reizbarkeit dieses Organs. Es liegt eine Monomanie vor. Der Kranke wird von einer fixen Idee verfolgt. Für ihn wird dieses Stück Chagrinleder wirklich kleiner, vielleicht ist es aber immer so groß gewesen, wie wir es gesehen haben; aber ob es sich zusammenzieht oder nicht, dieses Chagrinleder ist für ihn die Mücke auf der Nase des Großwesirs. Setzen Sie unverzüglich Blutegel an das Epigastrium, beruhigen Sie die Reizung dieses Organs, in dem das menschliche Leben seinen Sitz hat, sorgen Sie für eine strenge Diät, und die Monomanie wird weichen. Ich brauche Doktor Bianchon nichts weiter zu sagen; er muß die Behandlung vornehmen, im Ganzen wie in den Einzelheiten. Vielleicht liegt ein Zusammenwirken von Krankheiten vor, vielleicht sind die Atemwege gleichfalls in Mitleidenschaft gezogen; aber ich halte die Behandlung des Verdauungsapparates für weitaus wichtiger, notwendiger, dringlicher als die der Lungen. Die angespannte Beschäftigung des Geistes mit abstrakten Gegenständen und heftige Leidenschaften haben in diesem lebensnotwendigen Mechanismus ernste Störungen hervorgerufen; aber es ist noch nicht zu spät, dessen Triebkräfte wiederherzustellen; es ist noch nichts zu eingreifend verändert. Sie können also Ihren Freund mühelos retten«, wandte er sich abschließend an Bianchon.
»Unser gelehrter Kollege nimmt die Wirkung für die Ursache«, antwortete Caméristus. »O ja, die Veränderungen, die er so trefflich festgestellt hat, sind bei dem Patienten vorhanden; aber der Magen hat nicht die stufenweisen Ausstrahlungen in den Organismus und das Hirn hervorgebracht, wie ein Loch in einer Fensterscheibe strahlenförmig Sprünge um sich zieht. Es war ein Stoß nötig, um die Scheibe zu zersprengen. Wer hat diesen Stoß geführt? Wissen wir es? Haben wir den Patienten genügend beobachtet? Kennen wir alle Vorfälle seines Lebens? Messieurs, das Lebensprinzip, der ›Archeus‹ des van Helmont, [Fußnote: van Helmont , Johann Baptist (1577-1644): niederländischer Arzt, Chemiker und Philosoph, der die chemischen Prozesse im Organismus als Wesentlichstes betrachtete] ist bei ihm angegriffen; die Lebenskraft selbst ist an ihrer Wurzel verletzt; der göttliche Funke, die transitorische Intelligenz, die der Maschine als Zusammenhalt dient und den Willen erzeugt, das Bewußtsein des Lebens hat aufgehört, die täglichen Erscheinungen des Mechanismus und die Funktionen jedes Organs zu regeln; das verursacht die Störungen, die mein gelehrter Kollege ganz richtig konstatiert hat. Die Bewegung ging nicht vom Epigastrium zum Hirn, sondern vom Hirn zum Epigastrium. Nein!« rief er und schlug sich dabei heftig auf die Brust, »nein,
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