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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Hütten auf diesem Gebirgszug, dessen herbe und wilde Schönheiten die Pinsel unserer Künstler zu locken beginnen. Manchmal finden sich da wunderbare Landschaften voller Anmut und Frische, die sich malerisch von dem düsteren Anblick der öden Berge abheben. Etwa eine halbe Meile von dem Dorf entfernt entdeckte Raphael eine Stelle, wo die Natur, schelmisch und mutwillig wie ein Kind, offenbar Vergnügen daran gefunden hatte, Schätze zu verbergen; als er diese zauberhaft schöne, unberührte Einsamkeit erblickte, beschloß er, hier zu leben. Hier mußte das Leben ruhig, ursprünglich und gedeihlich sein wie das einer Pflanze.
    Man stelle sich einen umgedrehten Kegel vor, aber einen Kegel aus Granit, der, stark erweitert, eine Art Becken bildete, dessen Ränder durch bizarre Unebenheiten zerfetzt sind: hier flache, bläulich schimmernde Tafeln ohne Vegetation, auf denen die Sonnenstrahlen aufgleißen wie auf einem Spiegel; dort zerklüftete, von Schluchten zerrissene Felswände, von denen Lavablöcke herabhingen, deren Sturz die Regengüsse langsam vorbereiteten, zuweilen krönten sie ein paar verkrüppelte, von den Winden gepeitschte Bäume; hie und da ragte auf den düster schattigen kühlen Felsbänken ein Gehölz mit Kastanienbäumen empor, hoch wie Zedern; gelbliche Grotten öffneten einen schwarzen, tiefen Schlund, den Brombeersträucher und Blumen umrankten und eine grüne Zunge zierte. Auf dem Grund dieses Beckens, wahrscheinlich der erloschene Krater eines Vulkans, befand sich ein kleiner See, dessen klares Wasser wie ein Diamant erstrahlte. Um dieses tiefe, von Granit, Weiden, Schwertlilien, Eschen und tausenderlei duftenden, in voller Blüte prangenden Pflanzen gesäumte Becken dehnte sich eine grüne Wiese wie ein englischer Rasen; ihr zartes, schmiegsames Gras nahm das Wasser auf, das aus den Felsspalten sickerte, und wurde von den pflanzlichen Überresten gedüngt, die die Stürme von den hohen Gipfeln unablässig in die Tiefe trieben. Unregelmäßig gezackt wie der Spitzensaum eines Frauengewandes mochte der Weiher etwa drei Morgen groß sein; je nach dem Platz, den die hervortretenden Felswände oder die Krümmungen der Wasserfläche ihr ließen, war die Wiese einen oder zwei Morgen breit; an einigen Stellen allerdings war kaum so viel Platz, daß die Kühe hindurchgelangen konnten. In einer bestimmten Höhe hörte der Pflanzenwuchs auf. Der Granit ragte in den absonderlichsten Formen gen Himmel und zeigte die dunstigen Töne, welche die hohen Berge Wolken gleichen lassen. Dem lieblichen Anblick des kleinen Tales setzten diese kahlen, nackten Felsen das wilde, trostlose Bild der Öde entgegen, des Schreckens der Bergstürze und so phantastischer Formen, daß einer dieser Felsen »der Kapuziner« genannt wird, so sehr ähnelt er einem Mönch. Je nach dem Stand der Sonne oder den Launen der Atmosphäre leuchteten diese spitzen Nadeln, diese kühnen Pfeiler, diese luftigen Höhlen zuweilen auf und schimmerten golden, färbten sich purpurn, tief rosa, oder nahmen trübe oder graue Töne an. Diese Höhen boten ständig ein wechselndes Farbenspiel, wie das schillernde Gefieder auf dem Hals der Tauben. Oft drang zwischen zwei Lavablöcke, die aussahen, als hätte sie ein Beil auseinandergehauen, in der Morgenröte oder beim Sonnenuntergang ein froher Lichtstrahl in dieses lachende Schmuckkörbchen, wo er auf den Wassern des Teiches spielte, ähnlich dem goldenen Streifen, der durch den Spalt eines Fensterladens in ein spanisches Zimmer dringt, das man sorgfältig für die Siesta geschlossen hat. Wenn die Sonne über dem alten Krater stand, der von irgendeiner vorsintflutlichen Revolution her mit Wasser gefüllt war, erwärmten sich die schroffen Felswände, der alte Vulkan entbrannte, und seine plötzliche Glut erweckte in diesem unbekannten Fleckchen Erde die Keime, ließ einen üppigen Pflanzenwuchs gedeihen, färbte die Blumen und reifte die Früchte. Als Raphael dorthin kam, erblickte er einige Kühe, die auf der Wiese weideten; nachdem er ein paar Schritte zum See getan hatte, gewahrte er an der Stelle, wo das Tal am breitesten war, ein bescheidenes Haus, das aus Granit erbaut und mit Schindeln gedeckt war. Das Dach dieser Hütte fügte sich in die Landschaft ein: es war mit Moos, Efeu und Blumen bewachsen, die auf ein hohes Alter schließen ließen. Dünner Rauch, vor dem die Vögel keine Scheu mehr hatten, stieg aus dem verfallenen Schornstein. Vor der Tür stand zwischen zwei riesigen

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