Das Chagrinleder (German Edition)
blinzeln, dunkle Haut und einen wirren braunen Haarschopf. Es war flink, entschieden und natürlich in seinen Bewegungen wie ein Vogel; durch die Löcher seiner armseligen Kleidung schimmerte eine weiße und frische Haut. Alle beide blieben schweigend nebeneinander stehen; das gleiche Gefühl bewegte sie, und der Ausdruck ihrer Züge zeugte von der vollkommenen Übereinstimmung in ihrer beider gleichermaßen müßigem Leben. Der Greis hatte sich die Spiele des Kindes zu eigen gemacht und das Kind die Launen des Alten angenommen; eine Art Pakt zwischen zwei Schwachen, zwischen einer Kraft, die dem Ende zuging, und einer Kraft, die vor der Entfaltung stand. Bald zeigte sich eine etwa dreißigjährige Frau auf der Schwelle. Sie strickte im Gehen. Es war eine echte Auvergnatin, von lebhafter Gesichtsfarbe, mit offener, heiterer Miene und weißen Zähnen; sie hatte das Gesicht der Auvergne, den Wuchs der Auvergne, Haube und Tracht der Auvergne, die vollen Brüste der Auvergne und die Mundart der Auvergne; ein vollkommenes Idealbild des Landes, seiner arbeitsamen Sitten, seiner Unwissenheit, Sparsamkeit und Herzlichkeit; es fehlte nichts.
Sie grüßte Raphael, und es entspann sich ein Gespräch. Die Hunde beruhigten sich; der Greis setzte sich auf eine Bank in die Sonne, und das Kind wich seiner Mutter nicht von der Seite; es schwieg, aber hörte aufmerksam zu und sah den Fremden forschend an.
»Ihr fürchtet Euch hier nicht, gute Frau?«
»Und weshalb sollten wir Furcht haben, Monsieur? Wenn wir den Eingang versperren, wer sollte dann wohl hereinkönnen? Oh, wir haben keine Furcht! Übrigens« – damit ließ sie den Marquis in das große Zimmer des Hauses treten – »was sollten die Diebe denn bei uns holen?«
Sie wies auf die rauchgeschwärzten Wände, an denen als einziger Schmuck die blau, rot und grün kolorierten Stiche hingen: »Der Tod des Kredits«, »Die Passion Jesu Christi« und »Die Grenadiere der kaiserlichen Garde«. Weiterhin gab es in dem Zimmer ein altes Säulenbett aus Nußbaum, einen Tisch mit gedrechselten Beinen, Holzschemel, den Backtrog, eine Speckseite, die von der Decke baumelte, einen Salztopf, eine Pfanne und auf dem Kamin vergilbte, bemalte Gipsfiguren. Als er das Haus wieder verließ, sah Raphael auf den Felsen einen Mann, der eine Hacke in der Hand hielt, sich neugierig vorbeugte und auf das Haus sah.
»Sehen Sie Monsieur, da ist der Mann«, sagte die Auvergnatin. Dabei lächelte sie, wie man es an Bäuerinnen oft sieht. »Er arbeitet da oben.«
»Und der Alte ist Euer Vater?«
»Sie müssen schon entschuldigen, Monsieur, das ist der Großvater vom Mann. So wie Sie ihn da sehen, ist er hundertzwei Jahre alt. Nun, kürzlich hat er unseren kleinen Kerl zu Fuß nach Clermont geführt! Er war einmal ein starker Mann; jetzt tut er nichts mehr als essen, trinken und schlafen. Er macht sich immer mit dem kleinen Kerl zu schaffen. Manchmal führt der Kleine ihn auf den Berg; es geht immer noch.«
Sofort entschloß sich Valentin, bei diesem alten Mann und dem Kind zu leben, in ihrer Luft zu atmen, von ihrem Brot zu essen, von ihrem Wasser zu trinken, ihren Schlaf zu schlafen, ihr Blut durch seine Adern fließen zu lassen. Die Laune eines Sterbenden! Eine der Austern dieses Felsens zu werden, seine Schale noch einige Tage länger zu retten, indem er den Tod blind und taub machte, das wurde für ihn das Leitbild der individuellen Moral, die wahrhafte Formel des menschlichen Daseins, das schöne Ideal des Lebens, das einzige Leben, das wahre Leben. Ein inbrünstiger Egoismus bemächtigte sich seines Herzens, in dem das Universum versank. In seinen Augen gab es kein Universum mehr, das Universum war in ihm. Für einen Kranken fängt die Welt am Kopfkissen an und endet am Fußende des Bettes. Diese Landschaft wurde Raphaels Bett.
Wer hat nicht schon einmal in seinem Leben den Lauf und das Verhalten einer Ameise eifrig beobachtet; in das einzige Atemloch einer weißen Schnecke Strohhalme gesteckt; den launischen Flug einer schlanken Libelle verfolgt oder die tausend Äderchen bewundert, die sich, bunt wie die Rosette einer gotischen Kathedrale, auf den rötlichen Blättern einer jungen Eiche abzeichnen? Wer hat nicht eine geraume Weile entzückt die Wirkung der Sonne und des Regens auf ein braunes Ziegeldach betrachtet oder die Tautropfen, die Blütenblätter, ihre mannigfaltig gezackten Kelche beschaut? Wer war nicht schon in diese sinnlichen, trägen und hingegebenen Träume versunken, die
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