Das Chagrinleder (German Edition)
gewollt hätte. Wie oft habe ich nicht stumm und regungslos die Frau meiner Träume bewundert, wenn sie auf einem Ball vor mir auftauchte; und während ich dann in Gedanken mein ganzes Dasein nicht endenwollender Zärtlichkeiten für sie weihte, legte ich all meine Hoffnungen in einen Blick und bot ihr in meiner Hingerissenheit die Liebe eines Jünglings dar, die über Täuschungen erhaben ist. In manchen Augenblicken hätte ich mein Leben für eine einzige Nacht hingegeben. Aber nie fand ich Ohren, in die ich meine leidenschaftlichen Worte stammeln, nie ein Auge, in das mein Blick sich senken konnte, nie ein Herz für mein Herz, und so durchlebte ich alle Qualen einer ohnmächtigen Glut, die sich selbst verzehrte; sei es aus Mangel an Kühnheit oder an Gelegenheiten, oder sei es aus Unerfahrenheit. Vielleicht verzweifelte ich daran, daß ich mich nicht verständlich machen könnte, oder ich fürchtete, zu gut verstanden zu werden. Und dabei drohte jeder freundliche Blick, den man mir gönnte, einen Sturm in mir zu entfesseln. Doch trotz meiner Bereitschaft, einen solchen Blick oder scheinbar herzliche Worte als zarte Aufforderung zu deuten, wagte ich nie, zur rechten Zeit zu sprechen oder zu schweigen. Allzu starkes Gefühl ließ meine Worte nichtssagend werden und mein Schweigen albern. Fraglos war ich zu naiv für eine derart überfeinerte Gesellschaft, die in Glanz und Herrlichkeit lebt und alle ihre Gedanken in konventionelle Phrasen oder Modewörter kleidet. Ich verstand weder beredt zu schweigen, noch redend zu verschweigen. Kurz, ich trug ein Feuer in mir, das mich verbrannte; ich hatte ein Herz, wie es die Frauen zu finden wünschen, war so glühend und hingebungsvoll, wie sie es ersehnen; ich besaß die Energie, deren die Tröpfe sich nur rühmen – und doch haben mich alle Frauen aufs grausamste verraten. Kein Wunder, daß ich die Helden jener Clique ganz naiv bewunderte, wenn sie mit ihren Triumphen prahlten, und keineswegs argwöhnte, daß sie lügen könnten. Es war ohne Zweifel töricht von mir, auf bloße Worte hin Liebe zu begehren, im Herzen einer frivolen und leichtsinnigen, auf Luxus erpichten, von Eitelkeit trunkenen Frau, die gewaltige Leidenschaft zu erhoffen, den stürmischen Ozean, der in meinem eigenen Herzen brandete. Oh, sich geboren fühlen, um zu lieben, um eine Frau glücklich zu machen, und keine finden, nicht einmal eine mutige und edle Marcèline [Fußnote: Marcèline : Mutter des Figaro aus »Die Hochzeit des Figaro« (1784) von Beaumarchais (1732-1799)] oder irgendeine alte Marquise! Wenn man Schätze in einem Bettelsack trägt und kein Kind, kein neugieriges Mädchen findet, das sie bewundern will! Ich habe mich oft aus Verzweiflung umbringen wollen.«
»Du bist ja hübsch tragisch heute abend!« rief Émile.
»Laß mich, laß mich mein Leben verdammen«, erwiderte Raphael. »Wenn deine Freundschaft nicht so stark ist, meine Klagelieder anzuhören, wenn du nicht um meinetwillen eine halbe Stunde Langeweile ertragen kannst, dann schlafe! Aber verlange dann keine Erklärung mehr von mir für meinen Selbstmord, der in mir grollt, sich erhebt, mich ruft und den ich grüße. Wenn man jemanden beurteilen will, muß man zumindest die Geheimnisse seiner Gedanken, seiner Nöte, seiner Gefühle kennen. Ein Leben bloß nach den äußeren Ereignissen beurteilen zu wollen, heißt eine Chronologie abfassen – was Dummköpfe Geschichte nennen!«
Der bittere Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, machte Émile so betroffen, daß er Raphael von nun an aufmerksam lauschte, wobei er ihn fassungslos ansah.
»Aber jetzt«, fuhr der Erzähler fort, »erscheinen diese Ereignisse in einem ganz anderen, ganz neuen Licht. Die Ordnung der Dinge, die ich früher als Unglück betrachtete, hat vielleicht die schönen Fähigkeiten gezeitigt, auf die ich später so stolz war. Waren es nicht die philosophische Neugier, das rastlose Arbeiten, die Liebe zum Leben, die von meinem siebenten Jahre an bis zu meinem Eintritt in die Gesellschaft mein Leben beständig erfüllten, welche mich jener Leichtigkeit fähig gemacht haben, mit der ich, wenn man euch glauben darf, meine Ideen auszudrücken und auf dem weiten Feld menschlichen Wissens voranzuschreiten vermag? Waren es nicht die Verlassenheit, zu der ich verurteilt war, die Gewohnheit, meine Gefühle zu unterdrücken und einsam in meinem Herzen zu leben, die mir die Gabe verliehen, zu vergleichen und in tiefes Nachdenken zu versinken? Hat sich mein
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