Das Chagrinleder (German Edition)
Gedränge zum Tisch. Die schmerzhafte Anspannung meiner Nerven löste sich in Freude auf. Ich fühlte mich wie ein Verurteilter, der auf dem Wege zum Richtplatz dem König begegnet ist. Zufällig fehlten einem ordensgeschmückten Herrn 40 Francs, auf die er Anspruch hatte. Mißtrauische Blicke richteten sich argwöhnisch auf mich, ich erbleichte, und Schweißtropfen perlten von meiner Stirn. Das Verbrechen, meinen Vater bestohlen zu haben, schien mir gerächt. Da sagte der gute dicke kleine Mann mit einer wahrhaft engelgleichen Stimme: »Diese Messieurs hier hatten alle gesetzt«, und er bezahlte die 40 Francs. Nun erhob ich meine Stirn wieder und warf triumphierende Blicke auf die Spieler. Nachdem ich die der Börse meines Vaters entwendeten Goldstücke wieder ersetzt hatte, ließ ich meinen Gewinn bei dem würdigen, biederen Herrn stehen, dessen Glückssträhne anhielt. Als ich 160 Francs besaß, wickelte ich sie in mein Taschentuch, so daß sie auf unserem Nachhauseweg nicht aneinander klingen konnten, und spielte nicht mehr. – »Was haben Sie beim Spiel gemacht?« fragte mein Vater mich, als wir in die Droschke stiegen. – »Ich sah zu«, antwortete ich zitternd. – »Nun«, fuhr mein Vater fort, »es wäre nicht schlimm gewesen, wenn Sie sich aus Eigenliebe hätten dazu verleiten lassen, auch einen kleinen Einsatz zu wagen. In den Augen der Welt scheinen Sie alt genug, um Dummheiten begehen zu dürfen. Auch würde ich es entschuldigen, Raphael, wenn Sie sich meiner Börse bedient hätten ...« Ich antwortete nicht. Zu Hause gab ich meinem Vater seine Schlüssel und sein Geld zurück. Er ging in sein Zimmer, leerte die Börse auf dem Kaminsims, zählte das Geld, wandte sich mit einer recht liebenswürdigen Miene zu mir und sagte, wobei er nach jedem Satz eine mehr oder minder lange, bedeutsame Pause einlegte: »Mein Sohn, Sie sind nun bald zwanzig Jahre alt. Ich bin mit Ihnen zufrieden. Sie brauchen ein Taschengeld, sei es auch nur, Sie sparen und die Dinge des Lebens kennen zu lehren. Von heute ab gebe ich Ihnen 100 Francs monatlich. Sie können darüber verfügen, wie es Ihnen beliebt. Hier ist das Geld für die ersten drei Monate«, fügte er hinzu, indem er mit der Hand sacht über eine Rolle Goldes fuhr, als wollte er die Summe nochmals überprüfen. Ich gestehe, daß ich nahe daran war, mich ihm zu Füßen zu werfen, ihm zu bekennen, daß ich ein Dieb, ein Nichtswürdiger, und ... schlimmer als das, ein Lügner wäre. Die Scham hielt mich davon ab. Ich wollte ihn umarmen, er schob mich sanft zurück. – »Du bist jetzt ein Mann, mein Kind«, sagte er zu mir. »Was ich tue, ist einfach gerecht, wofür du mir nicht zu danken hast. Wenn ich ein Recht auf Ihre Dankbarkeit habe, Raphael«, fuhr er mit einem sanften, aber würdevollen Ton fort, »so ist es dafür, daß ich Ihre Jugend vor den Gefahren bewahrt habe, denen alle jungen Leute in Paris zum Opfer fallen. Von jetzt an werden wir Freunde sein. In einem Jahr sind Sie Doktor der Rechte. Sie haben sich, nicht ohne einige Unannehmlichkeiten und mancherlei Entbehrungen, solide Kenntnisse und die Liebe zur Arbeit angeeignet, unentbehrlich für Männer, die zu leitenden Stellungen berufen sind. Lernen Sie auch mich kennen, Raphael! Ich will aus Ihnen weder einen Advokaten noch einen Notar machen, sondern einen Staatsmann, der dereinst der Ruhm unseres bescheidenen Hauses werden möge. Auf morgen!« fügte er hinzu und verabschiedete mich mit einer vielsagenden Gebärde. Von dem Tage an weihte mein Vater mich freimütig in alle seine Pläne ein. Ich war der einzige Sohn, und ich hatte meine Mutter schon vor zehn Jahren verloren. Mein Vater, Haupt eines alten, fast vergessenen Adelsgeschlechts aus der Auvergne, [Fußnote: Auvergne : ehemalige Provinz; waldarmes Hochland im Süden Frankreichs] fand das Recht, mit dem Degen an der Seite seinen Kohl anzubauen, wenig schmeichelhaft und war seinerzeit nach Paris gekommen, um da den Kampf mit dem Teufel aufzunehmen. Begabt mit jener feinen Schläue, die, wenn sie mit Energie gepaart ist, die Männer aus dem Süden Frankreichs so überlegen macht, war es ihm ohne besondere Unterstützung gelungen, im Herzen der Macht eine Position zu erringen. Bald darauf vernichtete die Revolution sein Vermögen; er hatte es jedoch verstanden, die Erbin eines großen Hauses zu heiraten, und hatte sich unter dem Kaiserreich in der Lage gesehen, unserem Haus seinen einstigen Glanz wiederzugeben. Die Restauration, [Fußnote:
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