Das Darwin-Virus
linderte die Migräneschmerzen. Franco war zwischen den geraden, parallelen Schneestreifen nicht zu sehen. Der Wind pfiff und heulte, und Mitch drückte das Gesicht ans Eis. Der Pickel löste sich aus dem Loch, und er rutschte zwei oder drei Meter weit. Als die Schmerzen nachließen, fragte er sich, wie er hier lebend herauskommen sollte. Er presste die Steigeisen ins Eis und zog sich wieder die Böschung hinauf, wobei er Franco mit letzter Kraft hinter sich herzog. Tilde half Franco, wieder auf die Beine zu kommen. Er blutete aus der Nase und wirkte benommen. Offenbar war er mit dem Kopf auf das Eis geschlagen. Tilde sah Mitch an, lächelte und berührte ihn an der Schulter. Ganz freundlich. Keiner sagte etwas. Der geteilte Schmerz und die schleichende, böse Wärme schweißten sie eng zusammen. Franco gab ein schluchzendes, saugendes Geräusch von sich, leckte an seiner blutigen Lippe, zog die Seile fest. Sie waren völlig ungeschützt. Der Hang knackte in dem jaulenden Wind, rumpelte, rasselte, machte Geräusche wie ein Traktor auf einem Kiesweg. Mitch spürte, wie das Eis hinter ihm bebte. Sie waren zu nahe an dem Abhang, und der war sehr aktiv, machte eine Menge Krach. Er zog an dem zu Tilde führenden Seil, und es kam lose zurück – abgeschnitten.
Franco kam aus Wind und Schnee angestapft, das Gesicht voller Blut, die Augen starr hinter der Schneebrille. Er kniete sich neben Mitch, fiel über die behandschuhten Hände nach vorn und rollte auf die Seite. Mitch griff nach seiner Schulter, aber er rührte sich nicht. Jetzt stand Mitch auf und machte sich bergab auf den Weg.
Der Wind blies von oben, und er kippte vornüber. Er versuchte es noch einmal, lehnte sich ungeschickt nach hinten, stürzte. Es gab nur eine Möglichkeit: kriechen. Er zog Franco hinter sich her, aber das erwies sich schon nach wenigen Metern als unmöglich.
Nun kroch er zurück zu Franco und schob ihn vor sich her. Das Eis war nicht glatt, sondern rau, es nützte ihm nichts. Mitch wusste nicht mehr, was er tun sollte. Sie mussten sich vor dem Wind in Sicherheit bringen, aber er konnte nicht richtig sehen, wo sie waren, und sich deshalb auch nicht für eine Richtung entscheiden.
Er war froh, dass Tilde sie verlassen hatte. So konnte sie davonkommen, und vielleicht würde ihr eines Tages jemand Kinder machen, natürlich keiner von ihnen; sie waren jetzt aus dem alten Evolutionsspiel ausgeschieden. Keine Verantwortung mehr. Dass Franco so in Mitleidenschaft gezogen war, tat ihm Leid. »He, alter Freund«, schrie er dem Italiener ins Ohr. »Wach auf und hilf mir, sonst gehen wir hops.« Franco reagierte nicht. Vielleicht war er schon tot, aber Mitch glaubte nicht daran, dass jemand an einem einfachen Sturz sterben kann. Er fand die Taschenlampe an Francos Handgelenk, nahm sie ihm ab, schaltete sie ein und starrte seinem Begleiter in die Augen, die er mit den dicken Handschuhen zu öffnen versuchte. Es war nicht einfach, aber die Pupillen sahen klein und ungleich aus. Na also. Er war hart auf das Eis geknallt, hatte sich eine Gehirnerschütterung geholt und die Nase gebrochen. Daher kam das ganze Blut. Zusammen mit dem Schnee bildete es auf Francos Gesicht eine rötliche Masse. Mitch gab es auf, mit ihm zu reden. Er kam auf die Idee, sich loszuschneiden, aber das brachte er nicht übers Herz. Franco war nett zu ihm gewesen.
Rivalen, vereint durch den Tod im Eis. Mitch bezweifelte, dass irgendeine Frau romantischen Schmerz empfinden würde, wenn sie das hörte. Nach seiner Erfahrung kümmerten Frauen sich kaum um so etwas. Sterben, ja, aber nicht die Kameradschaft unter Männern. Auf einmal war alles so verwirrend, und ihm wurde schnell wärmer. Sein Mantel war sehr warm, die Skihose auch.
Und die Krönung war, dass er pinkeln musste. In Würde zu sterben, das kam offenbar nicht infrage. Franco stöhnte. Nein, es war nicht Franco. Das Eis unter ihnen zitterte, dann ruckte es, sodass sie nach einer Seite taumelten und rutschten. Im Licht der Taschenlampe sah Mitch einen großen Eisblock hochsteigen, oder fielen sie? Ja, sie fielen, und erwartungsvoll schloss er die Augen.
Aber er stieß nicht mit dem Kopf an, obwohl ihm der Aufprall den Atem nahm. Sie landeten im Schnee, und der Wind hörte auf.
Schneeklumpen fielen auf sie herab, und ein paar schwere Eisbrocken klemmten Mitchs Bein ein. Plötzlich wurde es still. Mitch versuchte das Bein zu bewegen, aber weiche Wärme leistete Widerstand, und das andere Bein war steif. Die Entscheidung
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