Das Diamantenmädchen (German Edition)
vor:
»Lilli Kornfeld, neun Jahre alt, aus Berlin Zehlendorf, meint zur Dienstmädchenfrage: ›Es ist ein Kreuz mit dem Personal.‹«
Wilhelm hatte sich den Bauch gehalten und gerufen: »Hör auf! Hör auf!«
Lilli dagegen hatte sich wütend verteidigt, weil sie nicht wusste, was so lustig gewesen war:
»Das sagt Mama wirklich immer, das weißt du genau, Wilhelm!«
Die beiden hatten aber nur weitergelacht, bis Lilli beleidigt gegangen war. Ein kleines neunjähriges Mädchen voller verletztem Stolz, das steifbeinig die Straße entlangstapfte, um seiner Mutter sein Leid zu klagen. Deswegen kletterte sie jetzt eben auch lieber über die Weide in van der Laans Garten. Gerda erinnerte sie immer an diese Niederlage vor den Jungens.
Es war schon später Nachmittag und die Luft voller Sommergeräusche. Bienen schwärmten, weil Großvater van der Laan ein paar Körbe weit hinten am Ostende des Gartens hatte. Von irgendwo rief ein Kuckuck eintönig und ohne Unterlass. Lilli murmelte im Laufen den alten Spruch: »Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch?«, und zählte dann mit, immer mit der kleinen Angst, er könnte aufhören, und erst dann mit einem Aufatmen, als es mehr als zwanzig Rufe waren. Schnell verlor sie die Lust und zählte nicht mehr weiter. Sie konnte sich sowieso nicht vorstellen, einmal so alt zu sein.
»Siehst du Paul?«, fragte Wilhelm. Er blieb stehen und drehte sich suchend im Kreis. Der Garten der van der Laans war noch weit größer als ihrer. Eigentlich hatte er fast schon die Weitläufigkeit eines Parks. Es gab einen Pavillon, der auf einer künstlichen Insel in dem kleinen Teich lag. Es gab so etwa dreizehn, vierzehn Fichten, die zusammen standen und zur Not einen kleinen Indianerwald abgeben konnten. Es gab weiten Rasen und einen abgeteilten Gemüsegarten. An der langen, sonnenwarmen Ziegelmauer, die sich um das Grundstück zog, wuchsen Büsche: Himbeeren und Brombeeren, die jetzt alle noch grün und klein waren. Zierquitten. Buchsbäume. Johannisbeeren. Stachelbeeren. Wenn Lilli in der Religionsstunde aus der Bibel vom Garten Eden vorgelesen wurde, hatte der schon immer so ausgesehen wie der Garten der van der Laans. Die weiße Villa mit den grün gestrichenen Fensterläden und der Veranda zum Garten hin – in der hatten Adam und Eva gewohnt.
»Da drüben!«, sagte Lilli und wies in Richtung des Hauses, wo eben ein schlaksiger Junge mit dem Bogen auf dem Rücken die Holztreppe der Veranda hinuntersprang. Er sah sie und rannte auf sie zu. Wilhelm hatte den Bogen abgenommen und zielte ohne Pfeil auf Paul, der, sobald er das sah, im Rennen seinen Bogen abnahm und Haken schlug.
»Tschiuu!«, ahmte Wilhelm das Geräusch eines fliegenden Pfeils nach und ließ die Sehne los. Paul duckte sich, aber Wilhelm hatte den Bogen schon wieder gespannt, ließ wieder einen imaginären Pfeil fliegen, und diesmal blieb Paul getroffen stehen, fasste sich theatralisch an die Brust, stöhnte und brach zusammen. Lilli rannte hin.
»Kann ich Euch helfen, edler Wilder!«, fragte sie tief besorgt, als sie sich neben ihn hinkniete.
»Nein, weiße Squaw«, stöhnte Paul mit ersterbender Stimme, »mir kann keiner mehr helfen. Nicht einmal du. Ich gehe in die ewigen Jagdgründe. Mein Schatz …«, er brach ab, als hätte er die größten Schmerzen, stöhnte und wisperte dann: »Meine Edelsteine … sie liegen im Llano Estacado!«
Dann schied er dahin. Lilli markierte erschüttertes Schluchzen und Wilhelm, der gemessenen Schrittes daherkam, versorgte seinen Bogen und sagte mit Grabesstimme:
»Er war ein tapferer Gegner! Man muss ihm Ehre erweisen!«
Daraufhin nahm er die Mütze ab und sah betreten aus. Lilli und Paul, der geblinzelt hatte, mussten lachen. Wilhelm streckte die Hand aus und half Paul auf.
»Wo ist der Llano Estacado?«, fragte er.
Paul verwandelte sich vom toten Indianer zum Schatzsucher. Er wies in Richtung des Glashauses, dessen Fenster in der Nachmittagssonne gleißten. Viel mehr konnte man nicht sehen, weil ringsherum die Stangenbohnen in vier oder fünf Reihen standen und den Großteil des Gewächshauses verdeckten.
»Dort, in der Nähe des Brunnens auf dem tiefsten Grund der Schlucht liegen die Schätze des Indianerhäuptlings. Wir müssen uns beeilen, bevor Captain Smith kommt. Die Bloody Virgin ist schon auf dem Weg!«
Lilli bewunderte Paul, der schon seit Jahren Privatunterricht in Englisch hatte und deshalb so wunderbar englische Namen aussprechen
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