Das Dornröschen-Projekt - Krimi
Großmut war ohnehin für eine Weile aufgebraucht. Vielleicht bin ich auch bald tot, dachte Matti plötzlich, und die Angst fuhr ihm durchs Hirn. Dann war sie wieder weg. Sie würde zurückkehren, keine Frage.
Im Flur war nun Betrieb. Eine Tür öffnete sich quietschend, Gelächter. Dann stand Gaby im Türrahmen, schön, muskulös, ganz drahtige Kampfsportlerin, und hinter ihr lugte eine zarte Frau hervor, mit großen Augen in einem kleinen sommersprossigen Gesicht.
»Hey, Matti«, sagte Gaby. »Wie geht’s Dornröschen?«, und sie gähnte demonstrativ. Alle lachten, nur die kleine Frau begriff nicht.
»Der Kampf geht weiter«, sagte Matti und grinste.
»Und was treibst du so?« Sie meinte natürlich: Was hast du hier zu suchen?
»Wollte mit Werner was bequatschen.«
Das brachte ihm einen erstaunten Blick ein und hochgezogene Augenbrauen. »Mit Werner was bequatschen, schau an.« Sie ging zum Kühlschrank, nahm zwei Flaschen Pils heraus, und die beiden zogen ab. Die Kleine warf einen letzten fragenden Blick auf Matti. Der erinnerte ihn an Lily, die hatte auch immer so unergründlich geguckt. Er musste sie anrufen, verdammt. Und sie noch einmal sehen, bevor er tot war oder im Bau saß oder überhaupt.
Draußen war es mild geworden, zwar zogen graue Wolken am Himmel, aber es würde nicht regnen. An den Bäumen und Büschen sprossen hellgrüne Knospen. Matti schaltete die Klimaanlage aus und öffnete das Schiebedach. Er fuhr die Adalbertstraße hinunter und hätte am Kotti fast einen Mann übersehen, der hektisch winkte. Er hielt in der zweiten Reihe, und der Mann stürmte heran mit wehendem Mantel, in einer Hand hielt er einen Hut mit breiter Krempe. Er öffnete die Hintertür der Beifahrerseite. »Finckensteinallee«, krächzte er, »Lichterfelde, Bundesarchiv.« Er ließ sich mit einem Ächzen auf die Bank fallen, und Matti fiel ein, dass vielleicht eines Tages sein Mörder so einsteigen würde. Er hätte diese DVD nicht mitgehen lassen dürfen. Das war ihm jetzt klar. Er hätte sie nicht mitgehen lassen dürfen. Aber er hatte sie mitgehen lassen, und jetzt mussten sie diese Scheißscheibe finden, bevor die Bullen oder Norbis Mörder sie kriegten. Dieser Typ, den er ins Sony Center gefahren hatte. War das Norbis Mörder? Aber wie sollte er daraufkommen, dass Norbi die DVD hatte?
War er mir gefolgt die ganze Zeit? Er schaute in den Rückspiegel und wusste in dem Moment, dass es sinnlos war. Da saß dieser Typ mit dem Hut und starrte zurück. Matti überlegte, ob jemand die DVD hätte sehen können, als er vor Norbis Büro aus dem Wagen gestiegen war. Er stellte sich die Szene aus der Sicht eines Verfolgers vor und sah die DVD -Hülle in seiner Hand. Möglich wäre es also. Vielleicht bin ich schuld an Norbis Tod, weil ich den Mörder zu ihm geführt habe. Aber wie sollten sie auf Norbi kommen, er hätte doch jeden in dem Büro aufsuchen können? Wie viele arbeiteten da eigentlich? Vielleicht zehn, fünfzehn Leute. Warum also Norbi? Weil er nachts noch da war und der Einbrecher ihn angetroffen hatte. Wie praktisch, da konnte er die DVD gleich mitnehmen, ohne lange suchen zu müssen. Er musste mit den anderen darüber sprechen. Unbedingt. Er beschleunigte auf der Karl-Marx-Straße, überquerte die Gleise und erreichte bald die Auffahrt zur Stadtautobahn. Er sortierte sich links ein und zuckelte dann doch hinter einem Fiat her, dessen Fahrerin ihre blonden Locken durchs Verdeck wehen ließ.
Plötzlich die Stimme von der Rückbank, Matti erschrak. Aber die Stimme krächzte nur: »Sie fahren einen Umweg, Sie hätten über die 96 fahren müssen.« Dann hustete der Mann.
»Mitten durch Kreuzberg fahre ich um die Zeit ungern, das dauert. Über die 179 geht’s schneller, auch wenn es zwei Meter mehr sind. Okay?«
»Aber nicht, dass Sie mir mehr berechnen.« Die Stimme klang beleidigt.
»Natürlich nicht«, sagte Matti. »Im Stau stehen kostet auch.« Und er dachte: Wieder so ein Korinthenkacker.
Dann auf die 103 und an ihrem Ende nach der Ampel links abbiegen in den Wolfensteindamm, über den Hindenburgdamm in die Karwendelstraße. Lichterfelde gehörte zu den feineren Stadtteilen, hier standen viele Villen in großen Gärten, aber auch kleinere Häuser, in manchen Ecken aus rotem Klinker, woanders verputzt. Es gab mehrstöckige Mietshäuser, aber die waren feiner als in Kreuzberg oder Neukölln, und die Vorgärten waren gepflegt, Hinterhöfe fand man hier nicht. Sie kamen in die Finckensteinallee, links das
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