Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Schritte hallten in den Gängen wider, und aus den Klassenzimmern, an denen ich vorbeikam, erklang unterdrücktes Gemurmel. In Gedanken spielte ich die Möglichkeiten durch: Ging es um Joan? War ihr vielleicht etwas zugestoßen? Typisch, ich rechnete eben immer mit dem Schlimmsten. Was in meinem Fall aber gerechtfertigt war.
Immerhin hatte man mich im Alter von etwa fünf Jahren mitten im Winter in einem schlammigen Graben irgendwo in der Nähe des Lake Shore Drive gefunden. Eine kleine Miss X, die kaum noch atmete und keinerlei Erinnerungen an die Zeit vor dieser Nacht hatte, nach der niemand suchte. Die liebevolle Krankenschwester aus der Klinik hatte mich bei sich aufgenommen, mir Kleidung und Essen, ein Zuhause und einen Namen gegeben. Wenn man so etwas erlebt hat, dann ist diese Grundsorge mehr als nur ein Reflex, sie wird zur zweiten Natur, die das tägliche Leben überschattet und jedes Mal erdrückend wird, wenn jemand spät nach Hause kommt oder nicht anruft, obwohl er es eigentlich versprochen hatte.
»Miss Terra, nehmen Sie doch bitte Platz«, bat Rektorin Tollman und sah mich über ihre randlose Lesebrille hinweg an, als sie mich in ihrer Bürotür stehen sah. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf. »Offensichtlich sind hier wohl Glückwünsche angebracht.« Unwillkürlich riss ich die Augen auf. »Man hat uns gerade mitgeteilt, dass Sie und zwei Ihrer Mitschüler aus der elften Klasse das Stipendium des Kultusministeriums Illinois für künftige Führungskräfte bekommen haben.«
Ich brauchte etwas länger, bis diese Information bei mir angekommen war.
»Oh, wow. Das ist toll, danke«, brachte ich zurückhaltender hervor, als Tollman vermutlich erwartet hatte, aber die Neuigkeiten verwirrten mich. In Gedanken ging ich alles durch, wofür ich mich im Verlauf des letzten Jahres beworben und eingeschrieben hatte. Da gab es so viel, jedes einzelne Angebot, durch das ich an etwas Extrageld fürs College kommen oder ein Stipendium für eine meiner Traumunis ergattern konnte. Praktika, Stipendien, Essaywettbewerbe – in meinem Posteingang herrschte stets reger Andrang. So viele Anmeldungen und Abgabetermine, so viel Hoffnung, und trotzdem klingelte bei mir gerade gar nichts.
Die Schulleiterin nahm die Brille ab und sah mich mit leisem Lächeln an, während sie von mir offensichtlich irgendeine Reaktion erwartete. »Das klingt super«, beteuerte ich. »Und ich fühle mich auch wirklich geehrt. Aber ich kann mich ehrlich gesagt gar nicht daran erinnern, dass ich mich dafür beworben habe.« Ein nervöses Grinsen umspielte meine Mundwinkel.
Sie lachte, es war ein leises, charmantes Glucksen. »Tja, haben Sie auch gar nicht, das ist ja das Tolle an diesem Projekt. Die suchen sich einfach die besten, brillantesten Schüler aus und bringen sie ein Semester lang bei florierenden Firmen hier in Illinois unter. Es handelt sich um ein Pilotprogramm, das der Staat im Moment noch testet. Jedem von Ihnen wird in den entsprechenden Unternehmen ein Ansprechpartner zugeteilt, der Ihnen in diesem Zeitraum als Tutor und Mentor zur Seite steht. Und …« Sie setzte sich die Brille wieder auf und las von einem Blatt Papier ab: »Sie setzt man offensichtlich im Lexington Hotel in Chicago ein. Also, wissen Sie, das ist wirklich beachtlich. Das Hotel steht kurz vor seiner Neueröffnung, und die Besitzerin hat sich quasi über Nacht zum Liebling von Chicagos Businesswelt gemausert. Vielleicht haben Sie sie schon einmal in der Tribune oder in den Nachrichten gesehen. Wir sprechen hier von einem unglaublichen Privileg. Hier steht, dass Kost und Logis mit inbegriffen sind und dass ordentlich mit angepackt werden muss, es aber im Gegenzug auch ein saftiges Stipendium gibt.«
Ihre Worte prasselten zu schnell auf mich ein, um einen Sinn zu ergeben. Ich würde da also wohnen? Im Hotel? Und Vollzeit arbeiten? Ohne richtigen Unterricht? »Saftiges Stipendium«? Das wollte mir alles nicht in den Kopf. Fallen einem solche Dinge denn einfach in den Schoß? Vielleicht zahlten sich meine beinahe makellosen Noten, für die ich so hart arbeitete, mein Nachmittagsjob, den ich seit fast zehn Jahren hatte, und die Samstagabende, an denen ich zu Hause blieb und lernte, langsam doch aus. Vielleicht kam ich den teuren und angesehenen Unis auf meiner Wunschliste ja doch ein Stückchen näher.
»Der Zeitpunkt so mitten im Halbjahr ist natürlich ungünstig – offensichtlich feilt die Schulbehörde noch an den Feinheiten. Aber weil es sich um eine
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