Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
einmalige Chance handelt, drücken wir da mal ein Auge zu.« Dies verkündete sie mit ernster Miene und zusammengepressten Händen, die verrieten, dass sie im Gegenzug aber schon ein wenig Dankbarkeit und Begeisterung erwartete.
»Vielen Dank, Miss Tollman, das ist ja super. Ich weiß das wirklich zu schätzen.« In Gedanken war ich bereits fünf Schritte weiter und fragte mich, was Joan wohl dazu sagen würde. Ließ sie mich überhaupt gehen? Was musste ich alles einpacken? Und was sollte ich den Leuten im Krankenhaus bloß sagen?
»Sie fangen nächste Woche an. Hier finden Sie alle wichtigen Informationen.« Tollman stand auf und reichte mir einen dünnen braunen Umschlag, dann überraschte sie meine schlaffen, unvorbereiteten Finger mit einem kräftigen Händedruck. »Machen Sie unserer Schule Ehre, Haven!«
Außer bei Notfällen hatte ich noch nie so viele Leute im halbmondförmigen Schwesternbüro der Kinderstation gesehen. Aus allen Ecken und Enden des Evanston General Hospital war mindestens ein Dutzend Menschen mit Krankenhauskitteln in allen Farben des Regenbogens – rosa, blau, mit Disneyfiguren – herbeigeströmt. Alle umringten mich und knabberten an riesigen Stücken Red Velvet Cake (das war mein Lieblingskuchen).
Natürlich hatte Joan das Ganze organisiert. Jetzt beugte sie sich über den Blechkuchen mit der Aufschrift HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH UND ALLES GUTE, HAVEN! DU WIRST UNS FEHLEN ! und teilte in Windeseile und natürlich mit einem breiten Lächeln exakt geschnittene Stücke aus.
Vor ein paar Monaten war sie 50 geworden, aber die grauen Haare, die sie nicht färbte, waren das Einzige, was auf ihr Alter schließen ließ: Ihre Freizeitaktivitäten, vom Buchclub bis hin zu den Bridgeabenden, stellten meine bei weitem in den Schatten. Ich wünschte mir nur, sie würde öfter mal mit Männern ausgehen – von uns beiden schien sie damit mehr Glück zu haben – aber was das betraf, war sie ein ziemlicher Sturkopf. Es war das einzige Thema, auf das sie ganz schön empfindlich reagierte. Joan hatte sich ein oder zwei Jahre vor meinem Auftauchen scheiden lassen, nachdem festgestellt worden war, dass sie keine eigenen Kinder bekommen konnte. Sie sprach kaum darüber, durch die anderen Schwestern hatte ich im Laufe der Jahre aber immer mal wieder etwas mitbekommen, so dass ich mir aus den Bruchstücken die ganze Geschichte zusammengereimt hatte. Ihre Kolleginnen glaubten, dass sie jetzt zu viel Angst vor einer Beziehung hatte, und versuchten erfolglos, sie zu verkuppeln. Aber wenigstens hatte Joan jede Menge Freunde. Sie organisierte immer entweder gerade eine Party oder war auf einer eingeladen. Ich wünschte mir wirklich, eines Tages eine so gute Gastgeberin zu werden. Im Moment hatte ich schon genug damit zu tun, auf diesem Fest im Mittelpunkt zu stehen – eine Rolle, die mir nicht besonders behagte. Aber das war nun wirklich ein denkbar angenehmes Problem – ständig wurde an meinem lachsfarbenen Kittel gezupft, jemand nahm mich ohne jede Vorwarnung in den Arm oder klopfte mir vergnügt auf die Schulter, so dass ich bisher meinen Kuchen kaum angerührt hatte.
»Also, hör mal, ich weiß gar nicht, wie ich das meinen ganzen Patienten beibringen soll. Die werden ja am Boden zerstört sein!«, tönte Kardiologieschwester Calloway mit der blonden Beehive-Frisur. Sie versenkte die Gabel in ihrem Stück Kuchen, während Michelle aus der Pädiatrie – hier am Krankenhaus die Jüngste in der Facharztausbildung und mein großes Idol – und die weißhaarige Schwester Sanders mit feuchten Augen hinter ihren dicken Brillengläsern zustimmend nickten. Das war meine kleine Schwesternschaft. »Damit wirst du so einige Herzen brechen«, fuhr Calloway fort.
»Die ohnehin schon angeschlagen sind«, lieferte Michelle ihr die Pointe. Wir alle lachten. Das ging in der Klinik als Humor durch. Tatsächlich wurde ich hier schon mal »Herzensbrecherin« genannt, aber von Patienten über 80 und mit schwindender Sehkraft. Michelle lächelte. »Du wirst uns hier wirklich fehlen, Haven.« So jung, energiegeladen und winzig, wie sie war – genau wie ich unter 1,60 – konnte sie in ihrer Abteilung fast als Patientin durchgehen.
Sanders schniefte. »Könntest du nicht wenigstens am Wochenende vorbeikommen? Oder abends?«
»So langsam kriege ich ein schlechtes Gewissen«, seufzte ich. »Vielleicht sollte ich doch besser hierbleiben.«
Etwa fünf Meter weiter horchte Joan am anderen Ende des Schwesternbüros auf und
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