Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
Sonst kannst du ja die Kamera übernehmen.« Ich zwinkerte ihr zu. »Ich werde euch so vermissen, Leute. Okay, alle einmal abklatschen!« Ich drehte eine Runde und berührte die sanften Handflächen.
Als wir die Klinik verließen, war es draußen bereits dunkel. Während Joan im windumtosten Evanston durch die gemütlichen kleinen Vorortstraßen fuhr, glommen in der Ferne gedämpft die Lichter von Chicago. Es fühlte sich an, als wäre die große Stadt ganz weit weg von meinem Zuhause, von der bequemen Routine meines Alltagslebens, aber das war sie gar nicht. Die Heizung im Auto lief auf Hochtouren, und ich schwitzte unter meiner Daunenjacke. Ich seufzte.
»Alles klar?«, fragte Joan und sah mich aus dem Augenwinkel an.
»Ja, sorry.« Ich starrte weiter in die frostbedeckte, samtige Nacht hinaus. »Das war viel härter, als ich gedacht hatte.«
»Natürlich, mein Schatz, das ist doch deine Familie. Und bei Abschiedspartys bereut man hinterher immer, überhaupt wegzugehen. Ganz schön fies, was?« Sie lächelte, und ich auch. »Aber weißt du was? Wir sind ja hier, ganz in der Nähe. Es wird schon alles gut gehen.«
»Bestimmt, aber ich bin … na ja, eben aufgeregt.« Ganz leise meldete sich bei mir auch das schlechte Gewissen. Ich wollte nicht, dass Joan sich Sorgen machte, und ich wollte sie nun wirklich nicht daran erinnern, dass sie vor 24 Stunden noch komplett gegen diesen Plan gewesen war. Bei ihr hatten alle vorhersehbaren Alarmglocken geschrillt: Warum musst du denn da schlafen? Wie hart wollen die dich denn rannehmen, wenn du rund um die Uhr zur Verfügung stehen musst, immerhin wohnst du doch nur eine Zugstunde entfernt? Haben die noch nie was vom Jugendschutzgesetz gehört?
Ich hatte sie darauf hingewiesen, dass solche Bestimmungen bei einem Programm des Kultusministeriums doch mit Sicherheit befolgt wurden, die würden uns wohl kaum als Kindersklaven in eine Fabrik schicken. Überzeugt hatte sie aber letztlich, dass das Ganze eine große Ehre war, und natürlich war auch der finanzielle Aspekt ausschlaggebend (Joan hatte ganz schön große Augen gemacht). Ich hatte das Päckchen von Rektorin Tollman mit den Einzelheiten hervorgeholt, die Hochglanzfotos mit dem Hotel in all seiner Pracht und die ausgeschnittenen Artikel, in denen jede einzelne Zeitung, jedes Magazin der Stadt über diese glamouröse Frau berichtete – Aurelia Brown, blond, umwerfend, unglaublich jung und mächtig – die meine Chefin sein würde. Joan hatte einfach zustimmen müssen.
Aber jetzt, als der Freitagabend sich dem Ende neigte und mich dem intensiven Wochenende mit Vorbereitungen auf dieses neue Kapitel in meinem Leben immer näher brachte, lagen die Nerven bei mir dann doch blank.
»Ich weiß nur einfach nicht, wie die ganze Sache laufen wird«, fuhr ich fort. »Keine Ahnung, ob die mich mögen werden und ob ich meine Sache gut mache. Und es ist auch einfach seltsam. Ich meine, ich war ja noch nie weg, nicht mal im Sommerlager, und jetzt wohne ich auf einmal woanders. Gut, für die Uni hätte ich ja auch zu Hause ausziehen müssen, aber ich hätte ja noch ein Jahr Zeit gehabt, um mich darauf einzustellen. Das fühlt sich alles einfach … komisch an.« Anders konnte ich es nicht ausdrücken. Es kam mir so vor, als sei ich plötzlich im falschen Film gelandet und spielte meine Rolle darin ziemlich schlecht. Der Schein der Straßenlaternen verwandelte die kahlen Bäume in Monster mit dürren Fangarmen. Ich erschauderte und atmete tief durch.
»Mach dir da mal keine Sorgen. Die haben dich doch ausgesucht, oder etwa nicht? Sie wissen, dass du was Besonderes bist«, beruhigte mich Joan. »Außerdem kommt Dante doch mit. Ihr passt schon aufeinander auf.«
»Ich weiß. Sonst würde ich auch völlig ausflippen. Ganz allein bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
»Ach was!«
Dante war jetzt bereits seit etwa zehn Jahren mein Rettungsanker und bester Freund. Dass er nun auch fürs Lexington ausgesucht worden war, konnte man für pures Glück halten, allerdings buhlten er und ich ja auch in einem ständigen Kopf-an-Kopf-Rennen darum, Klassenbester zu werden (ganz zivilisiert natürlich). Also hatte es mich nicht gewundert, als er beim Mittagessen zu mir rübergekommen war, unter seinen kinnlangen Dreadlocks hervorgeschaut und eine Fritte von meinem Tablett geklaut hatte.
»Bei dir gibt’s nicht zufällig Neuigkeiten, oder?«, fragte er zunächst ganz vorsichtig, legte dann aber mit Vollgas los: »Bei mir nämlich schon! Und ich
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