Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
wedelte mit dem Messer in der Luft herum. »Ladys, ihr redet meinem Mädchen doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen ein?«, rief sie zu uns herüber und schnitt sich endlich auch selbst ein Stück Kuchen ab. Auf dem Tisch hinter ihr stand ein Foto von mir, darauf war ich etwa zehn Jahre alt und steckte in einer Miniaturversion der hiesigen Freiwilligenuniform. Hier gab es überall Bilder von mir: Als jedermanns Ersatztochter lächelte ich von Schreibtischen, Kommoden und Computerbildschirmen herab. Die Klinik war sozusagen mein Hort gewesen, solange ich mich entsinnen konnte. Ich war mit Joan zur Arbeit gekommen, und alle hatten auf mich aufgepasst, bis ich alt genug gewesen war, um mich hier nützlich zu machen. Den Teller in der Hand kam Joan mit vollem Mund zu mir herüber und legte den Arm um mich. »Die Kleine ist jetzt flügge, wir müssen sie loslassen. Aber sie kommt bestimmt gelegentlich vorbeigeflattert.« Sie zwinkerte mir zu.
»Ende Juni bin ich doch wieder zurück. Ihr werdet kaum merken, dass ich weg war«, behauptete ich, doch blutete mir bei diesen Worten das Herz. »Lass mich noch eben eine Runde drehen und allen Tschüss sagen.«
Und das tat ich auch, ich besuchte all meine Lieblingspatienten und hob mir den schwersten Abschied bis zuletzt auf: den auf der Kinderstation. Wie ein Rattenfänger marschierte ich durch die Abteilung und scharte dabei mit jedem Schritt mehr schlafanzugtragende Anhänger um mich, während ich Umarmungen und Küsse verteilte und versprach, bald wiederzukommen. Wir landeten hinten im Spielzimmer und versammelten uns vor dem großen Pinnbrett, das wir zusammen erstellt hatten. Die riesige Tafel mit bunter Borte füllte die ganze Wand aus und zeigte ein Foto von jedem kleinen Patienten. Das Ganze sah aus wie eine riesige Jahrbuchseite, die wir regelmäßig mit neuen Bildern aktualisierten. Das hatte vor einem Jahr ganz klein als Fotoprojekt für die Schule angefangen. Damals hatten sich ein paar Kinder bereit erklärt, mir Modell zu stehen, und irgendwann wollten dann alle gern mitmachen. Jenny, eine Vierzehnjährige mit Bandanastirnband, hatte mal verkündet: »Auf deinen Fotos sehen wir viel besser aus als im Spiegel.« Ich hatte ihr versichert, dass da kein Photoshop mit im Spiel war – die Porträts zeigten einfach nur sie.
Am erstaunlichsten war allerdings die Reaktion in der Schule gewesen. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten sich entweder für den Fotokurs entschieden, weil sie auf gute Noten ohne große Anstrengung aus waren, oder sie gehörten zu diesen wirklich leidenden Künstlertypen, die sich ganz in Schwarz kleideten. Und dann gab es da noch Leute wie mich, die Kunst zwar schätzten, dafür aber kein Talent hatten. Durch die Kamera zu schauen und auf den Knopf zu drücken, konnte ja wohl nicht so schwer sein, hatten wir uns gedacht. Und bei diesem Projekt hatte bei mir dann etwas Klick gemacht. Wenn man sich die Bilder anschaute, versank man geradezu in den Augen dieser Kinder und hatte das Gefühl, sie ganz genau zu kennen. In jedem Halbjahr wurde das Werk eines Schülers ausgewählt und in der Vitrine in der Eingangshalle ausgestellt, und irgendwie war in dem Jahr die Wahl auf mich gefallen. Wenn ich an meinen Fotos vorbeikam, sah ich jedes Mal, dass ein paar Kids davor standen und sie sich anschauten, selbst solche Typen, die sonst nie irgendwas mitbekamen. Sogar Jason Abington hatte sie sich angesehen – und zwar mehrfach. Einmal hatte er mich bemerkt (ich drückte mich da ziemlich oft herum), mich mit dem Ellbogen angestoßen und gemeint: »Sind die von dir? Die sind echt cool.« Das bedeutete mir mehr, als ich zugeben wollte. Aber es stimmte, die sanften Gesichter meiner Modelle strahlten auf den Bildern, so als hätte meine Kamera sie auf das Wesentliche reduziert.
Jetzt wandte ich mich an meine kleine Gefolgschaft: »Ich übertrage euch ganz offiziell die Verantwortung für unsere Fotowand.« Ich klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen. »Michelle hat versprochen, euch abzulichten, damit ihr regelmäßig neue Porträts aufhängen könnt. Nehmt sie bitte beim Wort, ich will Ergebnisse sehen, wenn ich zurückkomme«, lächelte ich.
»Oooh, hm, so gute Bilder wie du schießt die aber nicht«, flüsterte Jenny. »Erinnerst du dich noch an das Foto von ihr, auf dem ich ein Auge zuhatte? Als du mal nicht da warst? Und dafür haben wir schon eine Stunde gebraucht.«
»Leider wahr. Hoffen wir einfach, dass sie seitdem Fortschritte gemacht hat.
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