Das Dunkle Muster
stark sie ihre Gefühle zur Schau gestellt hatte. Sie hatte niemals in der Öffentlichkeit geweint, nicht mal beim Begräbnis ihrer Eltern.
Die Tränen trockneten, als sie an ihren Vater und ihre Mutter dachte. Wo mochten sie jetzt sein? Was mochten sie jetzt tun? Es wäre nett, sie einmal wiederzusehen. Das war aber auch alles: nett. Sie würde nicht im gleichen Gebiet mit ihnen zusammen leben wollen. Sie würden nicht mehr die gleichen Eltern sein, wie sie sie zuletzt gekannt hatte, grauhaarig, faltenreich und fett; Leute, deren einziges Interesse noch den Enkeln galt. Sie würden ebenso jung sein wie sie und sie würde – abgesehen von den gleichen Erfahrungen – wenig mit ihnen gemeinsam haben. Sie würden ihr ebenso auf die Nerven gehen wie sie ihr auf die Nerven gehen würden. Es würde unmöglich sein, ihnen zu erklären, daß das Eltern-Kind-Verhältnis zwischen ihnen nicht mehr existierte. Nebenbei dachte sie von ihrer Mutter lediglich so wie von einem x-beliebigen Symbol, einem meinungslosen Anhängsel ihres Vaters, der ein gewalttätiger, lauter und dominierender Mensch gewesen war. Obwohl sie ihn an sich nie sonderlich mochte, hatte sie, als er gestorben war, doch ein klein wenig Kummer verspürt. Aber das bezog sich vielleicht mehr darauf, was hätte werden können – nicht darauf, was geworden war.
Nach allem, was sie jetzt wußte, konnten sie längst wieder gestorben sein.
Was kümmerte es sie?
Es kümmerte sie nicht. Aber warum weinte sie nun schon wieder?
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»Also, Leute, da sind wir wieder. Diesmal dreht sich alles um den großen Kahn! Der Start steht bevor! Ein Hoch auf den Großen Gral, den Nebelturm, das Haus des Weihnachtsmanns am Nordpol, die Wohnung des heiligen Nikolaus, der uns von den Toten auferstehen ließ und uns die ewige Jugend, kostenlose Nahrung, Schnaps und Tabak schenkte!
Es müssen mindestens eine Million Menschen hier versammelt sein. Die Tribünen sind voll, die Hügel wimmeln von Menschen, und die Leute fallen beinahe schon aus den Bäumen. Die Polizei kommt kaum noch damit durch, in diesem Gewimmel eine Ordnung aufrecht zu erhalten. Wir haben einen herrlichen Tag – aber haben wir den nicht immer? Der Lärm ist ungeheuer, und ich weiß nicht einmal, ob ihr überhaupt ein Wort von dem, was ich rede, verstehen könnt, auch wenn ich durch eine Verstärkeranlage spreche. Und jetzt, Leute, geht’s los!
Aha! Einige von euch haben mich also doch gehört. Aber das war nur ein Scherzchen, Freunde – ich wollte nur eure Aufmerksamkeit auf mich lenken. Laßt mich nun etwas über die Parseval erzählen. Ich weiß zwar, daß viele von euch eine Broschüre bekommen haben, in denen alles über dieses kolossale Luftschiff drinsteht, aber die meisten von euch sind Analphabeten. Das ist natürlich nicht eure Schuld. Ihr sprecht zwar Esperanto, aber die wenigsten haben die Gelegenheit gehabt, es auch lesen zu lernen. Also paßt gut auf! Das heißt, wartet einen Moment, damit ich mir zuvor meine ausgedörrte Kehle mit einem Schnäpschen anfeuchten kann.
Ah! Das tat guuuut! Das einzig Ärgerliche an der Sache ist, daß ich meinen Durst schon seit dem Morgengrauen zu stillen versuche und nun Schwierigkeiten habe, geradeaus zu sehen. Ich kann mich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, wie es morgen früh mit mir aussieht, aber lassen wir das. Man hat für alles Gute auf dieser Welt seinen Preis zu zahlen – von dem Schlechten mal abgesehen.
Da ist sie, Leute, obwohl es sicherlich sinnlos ist, extra auf sie hinzuweisen. Die Parseval. Getauft auf diesen Namen von Firebrass, dem Mann, der als erster auf die Idee kam, ein Luftschiff zu bauen und schließlich auch – nach ‘ner Menge Diskussionen – durchsetzte, wie sie heißen soll.
Der Dritte Offizier Metzing wollte sie nach dem Mann, der die erste kommerzielle Luftschifflinie gründete und seine Finger auch in der Konstruktion militärischer Luftschiffe hatte, Graf Zeppelin III nennen.
Die Erste Offizierin Gulbirra war der Meinung, man sollte sie nach der gesamten menschlichen Rasse Adam und Eva nennen, damit sie uns alle repräsentiert. Sie hat auch Königin der Lüfte und Titania vorgeschlagen und damit ein kleines bißchen weiblichen Chauvinismus gezeigt. Titania erinnerte uns aber zuviel an Titanic, und ihr wißt, was aus diesem Schiff geworden ist.
Ach nein, könnt ihr ja gar nicht. Ich vergaß, daß die meisten von euch noch nie von ihr gehört haben.
Einer der Ingenieure – ich habe seinen Namen gerade nicht
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