Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dunkle Muster

Das Dunkle Muster

Titel: Das Dunkle Muster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
überhaupt glauben. Und noch weniger würden von ihnen erfahren, wenn die Reise mit dem Tod der Mannschaft endete.
    Frigate warf einen Blick hinaus. Die Welt bestand aus Sternenglanz und dunklen Schatten. Unter ihm zog sich – wie Schlangen in Marschformation – das Flußtal dahin. Die Sterne schwiegen und auch die Täler. Sie waren so still wie der Mund von Toten.
    Das war ein zu niederdrückender Vergleich.
    Stumm wie die Schwingen eines Schmetterlings. Dieser Gedanke erinnerte ihn an die Sommer seiner Kindheit und Jugend auf der Erde, an die bunten Blumen im Hintergärtchen, besonders die Sonnenblumen, ja, die großen, gelben Sonnenblumen, das Zwitschern der Vögel, den herrlichen Duft, der aus Mutters Küche zu ihm herausdrang, Roastbeef, Kirschtörtchen, das Klavier seines Vaters…
    Ihm fiel eines der Lieblingslieder seines Vaters ein, das er auch sehr gern gemocht hatte. Er selbst hatte es des öfteren während der Nachtstunden gesungen, wenn er auf dem Schoner zum Wachdienst eingeteilt war. Und wenn Frigate es sang, sah er in seinem Bewußtsein ein kleines Leuchten, ein Leuchten wie von einem Stern, der vor ihm dahinzuschweben schien und ihn auf ein namenloses, aber dennoch erstrebenswertes Ziel zuführte.
     
    Glühwürmchen, Glühwürmchen
    flimm’re, flimm’re,
    Glühwürmchen, Glühwürmchen
    schimm’re, schimm’re,
    führe uns auf rechten Wegen,
    führe uns dem Glück entgegen!
     
    Glühwürmchen, Glühwürmchen
    flimm’re, flimm’re,
    Glühwürmchen, Glühwürmchen
    schimm’re, schimm’re,
    gib uns schützend dein Geleit
    zur Liebesseligkeit!
     
    Plötzlich weinte er. Die Tränen flossen für all die guten Dinge, die gewesen waren oder hätten sein können, und für die schlechten, die gewesen waren, aber nicht hätten sein müssen.
    Frigate trocknete seine Tränen, überprüfte ein letztes Mal die Instrumente und weckte dann den kleinen Mauren. Anschließend kroch er unter die Decken, aber er fand keinen Schlaf, da die Schmerzen in Hals, Schultern und Brust zu übermächtig waren. Nach mehreren Versuchen in die Zonen des Vergessens einzudringen, gab er es auf und begann ein Gespräch mit Nur. Damit setzten sie eine Unterhaltung fort, die sich seit vielen Jahren durch jeden Tag und jede Nacht erstreckt hatte.
     

68
     
    »In verschiedenen Dingen«, sagte Nur, »stimmen die Kirche der Zweiten Chance und die Sufis miteinander überein. Die Chancisten benutzen allerdings eine etwas andere Ausdrucksweise, was dazu führen kann, daß man es nicht gleich erkennt.
    Das Endziel der Chancisten und der Sufis ist jedoch das gleiche. Wenn man einmal davon absieht, wie die Chancisten es definieren, sind beide der Ansicht, daß das Individuum von einem universalen Ich absorbiert werden muß. Das heißt von Allah, Gott, dem Schöpfer, dem Wahren. Du kannst es nennen, wie du willst.«
    »Und das bedeutet, daß das Individuum ausgerottet wird?«
    »Nein. Absorbiert. Ausrotten bedeutet vernichten. Bei der Absorption wird die individuelle Seele, das Ka oder Brahman, ein Teil des universellen Ichs.«
    »Und das bedeutet, daß das Individuum sein Eigenbewußtsein, seine Einzigartigkeit, verliert? Daß das Individuum sich nicht mehr als Einzelwesen bewußt ist?«
    »Ja, aber dafür ist es dann zu einem Teil des Großen Ichs geworden. Was bedeutet schon der Verlust der Individualität, wenn man dafür zu einem Wesen wird, das man nur noch mit Gott vergleichen kann?«
    »Der Gedanke daran erfüllt mich mit Grauen. Man könnte ebenso gut tot sein. Wenn man das Eigenbewußtsein verloren hat, ist man tot. Nein, ich kann einfach nicht verstehen, wieso die Chancisten, Buddhisten, Hindus und Sufis einen solchen Zustand als erstrebenswert ansehen. Ohne das eigene Bewußtsein ist man als Individuum tatsächlich tot.«
    »Hättest du je die Ekstase erfahren, die die Sufis erreichen, wenn sie weit fortgeschritten sind, dieses Hinübergehen, würdest du verstehen, worauf ich hinauswill. Aber kann man einen Menschen, der von Geburt an blind ist, das Glücksgefühl derjenigen vermitteln, die sich an den Farben eines Sonnenuntergangs berauschen?«
    »Aber das ist es ja«, wandte Frigate ein. »Ich hatte selbst mystische Erlebnisse. Sogar drei. Beim erstenmal war ich sechsundzwanzig Jahre alt. Ich arbeitete damals in einem Stahlwerk an den Abkühlungsgruben, dort, wo die Kräne große Barren aus den Gußformen holen, die man vorher an den Hochöfen mit flüssigem Stahl gefüllt hat. Nachdem sie sich abgekühlt haben, nehmen die

Weitere Kostenlose Bücher