Das egoistische Gen
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Die Biologie ist zur Jahrhundertwissenschaft geworden. Genetik, Molekularbiologie und Evolutionstheorie haben uns einen neuen Verstehenshorizont erschlossen, der gleichermaßen bedeutsam ist für Biologie wie für Medizin und Philosophie, für das Verständnis und den Umgang mit der Natur wie für Schöpfungsvorstellungen. Dazu hat Richard Dawkins eine entscheidende neue Idee hinreißend formuliert. Sein sachlich überraschendes, genial gedachtes und rasant geschriebenes Buch hat ihm jedoch nicht nur Beifalls-, sondern auch Entrüstungsstürme eingebracht. Ein Grund für letztere liegt wohl darin, daß er einen Paradigmenwechsel für Laien verständlich erläuterte, noch bevor viele Fachleute ihn begriffen hatten. Dawkins tut das, indem er die Theorien mit markanten Beispielen illustriert und nicht umständlich versucht, ihre Richtigkeit zu beweisen.
Worum geht es? Noch zu Darwins Lebzeiten hatte sich in europäische Denkgewohnheiten die Idee der Arterhaltung fest eingenistet. Es schien das Natürlichste von der Welt, daß alle Lebewesen danach strebten, ihre Art zu erhalten. Schon im 13. Jahrhundert hatte Thomas von Aquin die Arterhaltung zu den grundlegenden natürlichen Neigungen gezählt. Daraus abgeleitet wurde ein Recht der Lebewesen auf Erhaltung ihrer jeweiligen Art. Auf solches Naturrecht baut die philosophische Ethik bis heute: Deutschen Juristen gilt die Sicherung des menschlichen Überlebens als das Fundamentale des biologischen Existierens. Der Biologe Hubert Markl koppelt die Menschenwürde mit der Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit der menschlichen Spezies. Immanuel Kant meinte, daß ohne den Menschen die ganze Schöpfung „umsonst und ohne Endzweck seyn würde“, und entsprechend formulierte Hans Jonas als obersten Imperativ, „daß eine Menschheit sei“. Diese Ansicht aber scheint höchst unnatürlich.
Nach Darwins Tod dauerte es fünfzig Jahre, bis konsequent denkende Naturwissenschaftler darauf kamen, daß die lange Zeit beliebte Frage nach dem Arterhaltungswert eines Organs oder Verhaltens zu keinen biologischen Einsichten führt, daß Arterhaltung kein natürliches Prinzip, sondern eine falsche menschliche Interpretation ist. Mit dieser Erkenntnis begann eine kopernikanische Kehrtwendung zurück zu dem, was Darwin wirklich gemeint hatte. Die Wende geschah in zwei Schritten. Der erste Schritt folgte aus der Einsicht, daß Arten sich wandeln (Artenwandel war Darwins Thema!), weil Individuen erblich verschieden und dabei auch verschieden erfolgreich in der Fortpflanzung sind. Auf dem unterschiedlichen Erfolg von Individuen basiert Evolution. Wer Evolution – und damit die eigene Herkunft – verstehen will, der muß individuelle Erfolgsunterschiede samt ihren Gründen und Folgen untersuchen. Daß jeweils die erfolgreicheren Varianten schließlich das Bild der Art bestimmen, ist – wie man dann bemerkt – keine Garantie dafür, daß auch die Art insgesamt damit besser fährt oder erhalten bleibt; sie kann an den erfolgreichen Varianten sogar zugrunde gehen.
Dieser erste Wendeschritt – vorbereitet von R. A. Fisher 1930 und J. B. S. Haidane 1955, massiv propagiert von G. C. Williams 1966 – schob das Augenmerk weg vom Wohl und Wehe der Art hin zum Wohl und Wehe des Individuums. Der zweite Schritt –vorbereitet von W. D. Hamilton 1964 und J. Maynard Smith 1972, massiv propagiert im vorliegenden Buch von R. Dawkins – beruht auf Erkenntnissen der Genetik, die Darwin nur erahnen konnte, und verschiebt nun das Augenmerk noch einmal, weg vom Wohl und Wehe des Individuums hin zum Wohl und Wehe der Gene. Die sind es ja letztlich, und nicht die Individuen, die vervielfacht und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Gene überleben die Körper, in denen sie hausen, um viele Millionen Jahre; zur Fortpflanzung vermehren die Individuen nicht sich selbst, sondern ihre Erbanlagen, aus denen dann andere, neue Individuen entstehen.
Was die Individuen im Leben tun, ist – je nach Art des Lebewesens mehr oder weniger – von den Erbanlagen programmiert.
Zwangsläufige Folge unter natürlicher Selektion ist dann ein Trend zu Programmen, die sich mit Hilfe entsprechenden Verhaltens durch das Individuum maximal vervielfachen. Und das ist etwas anderes als etwa ein Trend, der hinführte zu Gesundheit, langem Leben oder Glück dieses Individuums oder zum Wohlergehen einer Art beziehungsweise Gruppe.
Das hat Dawkins in suggestiven Bildern verständlich
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