Das egoistische Gen
weitgehend außerhalb von Deutschland abgespielt hat. Nach der Vorgehensweise haben sich dabei, wie geistreich spöttelnde Insider meinen, zwei Lager gebildet: In Cambridge versucht man es nie mit einer einfachen Erklärung, wenn es noch eine kompliziertere gibt, während die Oxford-Taktik darin besteht, testbare Prinzipien zu meiden, solange man nichtfalsifizierbare zur Hand hat. Obwohl Richard Dawkins in Oxford schreibt, hat er bislang weitgehend recht behalten.
PROF. DR. WOLFGANG WICKLER
Seewiesen, Februar 1994
Vorwort zur zweiten Auflage
In den rund zehn Jahren seit Veröffentlichung der ersten Auflage dieses Buches hat seine zentrale Botschaft Eingang in die meisten Lehrbücher gefunden. Das ist paradox, allerdings nicht auf den ersten Blick. Das egoistische Gen gehört nicht zu den Büchern, die bei ihrem Erscheinen als revolutionär geschmäht werden und dann stetig an Anhängern gewinnen, bis sie schließlich so anerkannt sind, daß man sich fragt, worum seinerzeit bloß soviel Aufhebens gemacht wurde. Ganz im Gegenteil. Von Anfang an waren die Rezensionen erfreulich günstig, und Das egoistische Gen war zunächst nicht umstritten. Erst im Laufe der Jahre geriet es in die Diskussion, und heute wird es von weiten Kreisen als ein Werk von radikalem Extremismus angesehen. Doch während genau derselben Jahre, in denen das Buch zunehmend in den Ruf der Radikalität geriet, erschien sein tatsächlicher Inhalt immer weniger extrem, immer mehr allgemein akzeptiertem Gedankengut zu entsprechen.
Die Theorie des egoistischen Gens ist Darwins Theorie, auf eine Weise ausgedrückt, die Darwin nicht gewählt hat, deren Eignung er aber, so meine ich, unverzüglich erkennen und begeistert aufnehmen würde. In der Tat ergibt sie sich logisch aus dem orthodoxen Neo-Darwinismus, geht aber von einem neuartigen Blickwinkel aus. Statt sich auf den individuellen Organismus zu konzentrieren, sieht sie die Natur mit den Augen des Gens. Die Theorie des egoistischen Gens ist eine andere Art der Betrachtung, nicht eine andere Theorie. Auf den ersten Seiten meines Buches The Extended Phenotype habe ich dies mit Hilfe des sogenannten Necker-Würfels verdeutlicht.
Dies ist ein zweidimensionales Muster, das mit Druckerschwärze auf Papier gezeichnet ist, wir sehen es jedoch als einen transparenten, dreidimensionalen Würfel. Man starre es ein paar Sekunden lang an, und man wird plötzlich einen anders ausgerichteten Würfel wahrnehmen.
Starrt man weiter,so springt er wieder in den urspünglichen Würfel zurück. Beide Würfel sind gleich gut mit den zweidimensionalen Daten auf unserer Retina zu vereinbaren, so daß unser Gehirn bereitwillig von einem zum anderen wechselt. Keiner der beiden ist korrekter als der andere. Auch die natürliche Auslese kann man auf zwei Arten betrachten: aus dem Blickwinkel des Gens und aus dem des Individuums. Richtig verstanden sind beide gleichwertig, zwei Ansichten derselben Wahrheit. Man kann von einer zur anderen springen, es bleibt derselbe Neo-Darwinismus.
Heute meine ich, daß dieser Vergleich zu vorsichtig war.
Durch eine neuartige Betrachtungsweise bestehender Theorien oder bekannter Tatsachen kann ein Wissenschaftler häufig Wichtigeres leisten als durch die Entwicklung einer neuen Theorie oder die Entdeckung neuer Fakten. Das Modell des Necker-Würfels ist insofern irreführend, als es den Gedanken nahelegt, die beiden Sichtweisen seien gleich gut. Zwar ist der Vergleich teilweise treffend: (Blick-)Winkel lassen sich im Gegensatz zu Theorien nicht durch Experimente überprüfen; wir können nicht auf unsere vertrauten Kriterien des Verifizierens und Falsifizierens zurückgreifen. Aber eine Veränderung der Sichtweise kann im besten Falle etwas Wertvolleres ergeben als eine Theorie. Sie kann die Pforte aufstoßen zu einem völlig neuen Klima des Denkens, in dem viele aufregende und überprüfbare Theorien geboren und bis dahin unvorstellbare Fakten aufgedeckt werden. Das Beispiel des Necker-Würfels trifft hier ganz und gar daneben. Zwar kann es den Gedanken eines Umschwungs der Betrachtungsweise wiedergeben, aber nicht den Wert eines solchen Umschwungs. Worüber wir hier sprechen, ist nicht ein Wechsel zu einer gleichwertigen Sicht, sondern eher – im Extremfall – eine Transfiguration.
Ich beeile mich hinzuzufügen, daß ich einen solchen Status keineswegs für meine eigenen bescheidenen Beiträge beanspruche. Dennoch ist dies die Art von Grund, weshalb ich es
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