Das elfte Gebot
verhaftet!“
7
Es bestand sicher kein Widersinn darin, daß er mit einer Anklageerhebung oder ähnlichen Schwierigkeiten zu rechnen hatte. Bestimmt würde er nicht zivilrechtlich, sondern kirchenrechtlich angeklagt werden. Das war Boyd klar, während man ihn einfach in die tiefergelegenen Stockwerke unter der Kathedrale abführte, immer weiter hinab, um ihn schließlich in eine enge, mit Gittertüren abgeteilte Zelle hineinzuschieben. Die Tür schnappte fest hinter ihm zu, und die beiden Priester in schwarzer Robe verschwanden. Sie ließen ihn im dämmrigen Schein einer winzigen Petroleumlampe zurück.
Ihm gegenüber, außerhalb jeglicher Verständigungsdistanz, waren andere Gefangene eingesperrt, deren Stimmen er vernahm. Er hatte auf seiner Seite den gesamten Zellenblock für sich allein und für die ihn bedrängenden Fragen. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte seine Gedanken draußen lassen können. Sie stürmten um so stärker auf ihn ein, je länger sich die Stunden hinzogen, die nur eine Unterbrechung durch die Essensausgabe seitens einer schweigsamen Wache erfuhren. Zu seiner Überraschung entsprach das Essen dem hohen Niveau der Verpflegungsstelle der Kathedralenmitarbeiter. Er verspürte jedoch nicht den geringsten Appetit.
Irgendwann öffnete sich die Haupteingangstür, um zwei Gestalten in schwarzer Robe mit einem neuen Gefangenen einzulassen, einen hochgewachsenen, glattrasierten Alten mit hageren Gesichtszügen. Auffallend war der seltsame Schnitt seiner Kleidung: weite Hosenbeine unter einem wunderlichen Jackett, alles in Schwarz gehalten. Selbst das Hemd war schwarz, von dem sich in scharfem Kontrast trotz des dämmrigen Lichts ein hell aufleuchtender weißer Streifen um den Hals abhob. Wenige Minuten später empfing er ein Tablett mit Gefängnisessen, welches er, nicht ohne zuvor den Kopf zu einem Dankgebet gesenkt zu haben, mit offensichtlichem Behagen verspeiste. Danach schob er die geleerten Näpfe beiseite und nahm Boyd mit interessiertem Blick in Augenschein.
„Wessen beschuldigt man Sie, mein Sohn?“ erkundigte er sich.
Boyd bemühte sich, seine Unschuld zu beteuern. Der alte Mann nickte nur. „Verbotene Medikamente, klar. Eine schwerwiegende Beschuldigung. Sie zu gebrauchen, ist schon schlimm genug, sie zu verkaufen, ist schlimmer. Alchimie hingegen – so lautet wohl die offizielle Bezeichnung – wird äußerst scharf geahndet. Obwohl ich noch nie von dem von Ihnen genannten Medikament gehört habe.“
„Weswegen sind Sie eigentlich hier?“ wollte Boyd wissen. Momentan kümmerte ihn das eigentlich herzlich wenig, aber die Haft setzte ihm zu, und jede Unterhaltung war ihm recht.
Der Alte seufzte tief. „Ich bin ein echter Katholik – ein römischer Katholik, oder, wie man zu sagen pflegt, ein Römischer. Grund genug, mich zu verfolgen. Wollen Sie mehr hören?“
„Ja bitte, warum nicht? Mich beispielsweise hat man vom Mars abgeschoben, und ich gelte hier bei allen als Heide. Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß man alle Menschen anderen Glaubens einsperrt?“
So einfach war es bestimmt nicht. Boyd erhielt stückweise eine Geschichtslektion, verbunden mit einer Erklärung der Übel, die Ketzern zu eigen waren. Für Vater Semper, so lautete der Name des Alten, der sich als Priester herausstellte, waren dies natürlich die Amerikanischen Katholiken. Der Grund, warum man ihn eingesperrt hatte, war der, daß eines der Kinder seiner Gemeinde aus ihrem Viertel weggelaufen war und er das Risiko eingegangen war, sich auf die Suche nach ihm zu machen, bevor es von den Kindern der „Amerikanischen Häretiker“ erkannt und angegriffen werden konnte. Er hatte auch Erfolg gehabt, war aber von der Dunkelheit überrascht und von den Nachtwachen außerhalb des römischen Viertels aufgegriffen worden. Da dies bereits sein dritter Verstoß in diesem Jahr war, befand er sich hier. Womöglich würde er auch eine ganze Weile hierbleiben oder aber auch vielleicht die Rückkehr in seinen Pfarrbezirk untersagt bekommen und in eine andere Stadt ausgewiesen werden.
„Das Kind jedoch ließen sie nach Hause gehen“, sagte er mit offensichtlicher Befriedigung.
„Sie sprachen von einem römischen Viertel“, erkundigte sich Boyd. „Bedeutet das etwa, daß Sie dort wie in einem Getto leben?“
Der alte Mann nickte. „Ganz recht. Ich sehe, Sie haben sich mit der Geschichte beschäftigt. Genauso ist es, Boyd, genauso. Es ist exakt ein Getto. Allen römischen Gläubigen ist es bei
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