Das elfte Gebot
Strafe auferlegt, sich dort vom Einbruch der Dunkelheit an bis zum Tagesanbruch aufzuhalten. Es ist zu deren eigenem Schutz, will man den Eklektikern glauben, und so ist es auch in der Tat – Schutz gegen den uns gegenüber sich entladenden Haß, den sie selbst erst unter ihre Gefolgschaft gesät haben! Man klagt uns des Versuchs an, die Welt in die Katastrophe gestürzt zu haben, obwohl doch jeder, der die Geschichte ernsthaft studiert, weiß, daß niemand anders als ihr verwünschter Bonaforte der Kriegstreiber und Clemens, Ehre seinem Namen, der Mann des Friedens war. Aber wir werden überleben, Boyd, das ist gewiß. Seit jeher hat es Ketzertum gegeben, und am Ende hat immer der wahre Glaube triumphiert. So wie er bereits überall in Europa triumphiert hat. Jawohl!“ Trotz Boyds Befremden nickte er begeistert. „Das hat man Ihnen nicht erzählt, nicht wahr? Inzwischen wird in ganz Europa die Autorität Papst Clemens XVII. uneingeschränkt akzeptiert. Wir sind ein Außenposten in einem Land der Sünde, aber wir werden überleben!“
Boyd gestand sich ein, den alten Mann zu mögen, ja dessen besonnenen Mut zu bewundern, obwohl es ihm zeitweise Mühe bereitet hatte, der Unterhaltung zu folgen. Die Schwierigkeiten steigerten sich noch, als er zu ergründen suchte, in welchen Einzelheiten sich Vater Sempers Glauben von dem hier vorherrschenden unterschied.
„Für uns ist der Bischof von Rom oberster Herr. In seine Hände hat der Erlöser die Aufsicht über die Schlüsselgewalt des Reiches Gottes gegeben. Ihm allein ist als einzigem Sterblichen Unfehlbarkeit verliehen worden.“ Vater Semper machte den Eindruck, als käme diesem Punkt besondere Bedeutung zu. „Das ist die Grundlage allen Glaubens, und an ihr läßt sich der Wert jeder Glaubensgemeinschaft messen.“
Seiner Darstellung nach stellte Bonafortes Wahl durch die amerikanischen Kardinäle eine Abscheulichkeit dar. Zugegeben, von der Zahl her entsprach das damals in Amerika zusammengetretene Kardinalskollegium genau jenem im völlig zerstörten Italien. Bonaforte aber hatte einfach diejenigen, die zur rechtmäßigen Synode fahren wollten, gefangengesetzt, weshalb deren Wahlstimmen nicht gezählt werden dürften. Bonaforte war nichts anderes als ein Betrüger, wenn nicht gar der Antichrist in Person.
Der feineren Unterschiede gab es offensichtlich mehrere, allerdings solcher Art, an deren Verständnis es Boyd wegen gründlicher Kenntnisse in Religionsphilosophie mangelte. Außerdem begriff er nicht, wieso der Akzeptierung einer bestimmten Bibelübersetzung eine derartige Bedeutung zukam, auch dann nicht, als Vater Semper beteuerte, die Fassung von King James sei von Ketzern eigens zum Zweck der Verherrlichung ihres Ketzertums abgefaßt worden. Beide Parteien benutzten immerhin offiziell die Vulgata.
„Wie steht’s mit diesem elften Gebot?“ fragte er. „Ich nehme an, daß ihr das ablehnt, oder?“
Der alte Mann blickte nachdenklich. „Als Gebot sicherlich. Doch es steckt Wahrheit in ihm, wie überhaupt oft in so mancher Verirrung von Ketzern Wahrheit enthalten ist. Gottes Wille tat sich Adam mittels des Auftrags, fruchtbar zu sein, kund. Aber man muß darin eine Aussage des Naturgesetzes des Überlebens sehen, weniger ein einzuhaltendes Gebot für jeden einzelnen. Nein, Boyd, wir sind in dieser Hinsicht keine Fanatiker, wie die Eklektiker es sind. Wir haben stets die Enthaltsamkeit als ein Recht und eine Tugend gepredigt. Tugendhafte Enthaltsamkeit, Boyd – nicht zügellose Praxis der Empfängnisverhütung, wie sie meines Wissens auf dem Mars existiert. Sie sollten in unsere Bibelstunden kommen. Bei Ihrem forschendem Geist würden Sie an den ideenreichen Werken unserer Philosophie, die wir bewahrt haben, Freude haben.“
Das brachte Boyd seine Probleme wieder in Erinnerung. „Falls wir jemals wieder hier herauskommen, ohne auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.“
„Keine Sorge, heutzutage werden keine Menschen mehr verbrannt, nicht einmal wegen Hexerei“, beruhigte Semper ihn. „Gottlosigkeit ist oft mit vielem Guten übertüncht. Aber die Menschen müssen lernen, über die Gefahr hinweg zu unsterblichen Seelen zu gelangen. Haben Sie keine Freunde, die Fürsprache für Sie einlegen können?“
Boyd ließ im stillen die Menschen Revue passieren, die er kannte. Da waren Harry und Ellen – und vielleicht noch Buckel-Pete. Aber keiner von ihnen konnte etwas für ihn tun. „Bischof O’Neill, ja, der schien mir freundlich gesonnen zu
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