Das elfte Gebot
keinen der normalen Eindrücke, an die er gewöhnt war, mehr feststellen. Er fühlte nicht, wie sein Körper sich in den Stuhl schmiegte, hatte keine Ahnung, wo seine Gliedmaßen waren, er spürte rein gar nichts. Er sah, wie die Hand des Arztes seinen Kopf bewegte, doch er fühlte sie nicht, alles schien irreal. Er wurde sich weder der Berührung noch der Bewegung bewußt. Seine Ohren teilten ihm mit, daß er mit etwas eingesprüht wurde, doch er spürte es nicht. Dann begann sein Geruchssinn zu verblassen. Der Geschmackssinn wurde ausgeschaltet. Dieser Verlust seiner Sinne war phantastisch – er hinterließ eine vollkommene Leere, wo normalerweise Tausende, meist unbewußte Botschaften hätten sein Gehirn bombardieren müssen.
Das war Gehirnwäsche! Er hatte darüber gelesen, aber niemals geglaubt, daß dies bei einem willensstarken Mann funktionieren könnte. Aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte er auch noch nie gespürt, wie ihn alle seine Sinne im Stich ließen.
Alles wurde schwarz. Er konnte nicht feststellen, weshalb, doch er vermutete, daß man ihm die Augen verbunden hatte. Der Hörsinn verschwand zuerst von einem Ohr, dann vom anderen, als man ihm die Ohren zustopfte, damit auch diese Möglichkeit der Wahrnehmung ausgeschaltet wurde.
Wie lange? Er konnte es nicht sagen. Kein Laut drang an seine Ohren, kein Gefühl des Atemholens war festzustellen.
Er war nicht da! Er war nirgendwo. Oder noch schlimmer, sein Verstand war von allem losgelöst. Er war von allen Verbindungen zum Universum abgeschnitten, auch von seinem eigenen Ich – und sogar sein Selbstgefühl schien allmählich zu verschwinden.
„Ich bin Boyd Allen Jensen. Ich bin Boyd Allen Jensen“, murmelte er unaufhörlich in seinem Geist.
Es half nichts. Ohne die kaum merklichen subvokalen Bewegungen seiner Sprechorgane, um die Botschaft in seinem Gehirn zu untermauern, gab es keine wirkliche Emphasis. Was hatte er …? Nein! Flackern, schweben, verblassen, immer tiefer … Ich …
Er kämpfte sich einen Weg zurück zum Selbst, herauf aus den Tiefen der beinahe totalen Losgelöstheit von allem. Er kämpfte, bis er wieder wußte, daß er existierte, bis er sich selbst wieder real war. Aber er konnte es nicht lange aushalten. Das Wissen begann bereits wieder zu verblassen …
Sich kräftig bemühen, denken, es war höchste Zeit. Was war Zeit? Die Ewigkeit war verschwunden. Trotzdem, weiter versuchen! Ich. Ich … Ich … Ich!
Ein leises Flüstern erreichte ihn. Worte. Irgendwie verschaffte die Wahrheit sich einen Weg in sein Gehirn. Es war die WAHRHEIT, denn sie fokussierte ihn zurück in die Existenz. Plötzlich spürte er grelles Licht in seinen Augen. Er hörte die Stimme von Swartz neben sich, leise sprechend fütterte sie Gedanken in seinen fast blanken Verstand. Er schrie, unterdrückte die Worte und machte sie bedeutungslos. Sie stoppten, um erneut zu beginnen, und wieder schrie er. Nun kehrten auch Geschmack und Geruchssinn zurück, er spürte den Stuhl unter sich. Sie mußten ihm eine andere Droge gegeben haben, die die Effekte der ersten ausschaltete.
Sein Verstand schnappte in den Fokus zurück oder zumindest fast in den Fokus. Er war geschockt worden, und zwar weit über jedes in seiner Erfahrung verankerte Maß hinaus, weit mehr, als er das jemals für möglich gehalten hätte. Er zitterte. Doch die dunkle Kälte in seinem Innern zog sich zusammen und wurde stärker, bis er seinen Verstand wieder in seine üblichen Kanäle zwingen konnte. In diesem kurzen Augenblick fragte er sich, ob er beichten sollte. Da war ein Flüstern des Zwanges wie ein hauchdünner, hypnotischer Nebel, doch die Antwort zerriß ihn. Zur Hölle mit ihnen! Sie hatten keinen Erfolg gehabt! Vielleicht hatten sie nicht erwartet, daß er im richtigen Moment würde schreien und damit die hypnotischen Worte Swartz’ im kritischen Moment unwirksam machen können.
„Sie sind ein außergewöhnlich störrischer und verblendeter Mann“, sagte Swartz. Er wirkte noch eine Spur besorgter. „Pharao selbst hätte kein härteres Herz haben können. Trotzdem, im Endeffekt wird es Ihnen nichts einbringen. Es wäre besser, wenn Sie Ihren Kampf aufgeben würden. Manchmal kommen Menschen nicht zurück aus den Schatten.“
Da Boyd störrisch schwieg, zuckte der Bischof die Achseln. „Nun gut, Sie ruhen nun besser eine Weile aus, Dr. Jensen. Ich möchte nicht, daß Sie bei unserem nächsten Verhör in einer schlechten physischen Verfassung sind.“
Er ging aus dem Zimmer,
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