Das Ende - Alten, S: Ende
dass du das sagen würdest.« Sie trat einen Schritt zurück, drehte sich um und begann, die Treppe hinaufzusteigen.
Tribeca, Manhattan, New York
6:24 Uhr
Der Tod eines Kindes ist etwas zutiefst Unnatürliches, eine Perversion des Lebens. Man ist einfach nicht darauf vorbereitet, dass Kinder vor ihren Eltern sterben. Wenn es doch passiert, stürzt das die Eltern in eine so grenzenlose Trauer, in einen so heftigen Schmerz und eine so allumfassende
Leere, dass die Betroffenen darin manchmal geradezu ertrinken.
David Kantor war im Krieg gewesen. Er hatte Kinder behandelt, die Arme oder Beine verloren hatten. Er hatte ihre leblosen Körper in den Armen gehalten. Trotz fünf Einsätzen in zwei Kriegen war der Mediziner gegenüber den Tragödien, die Kinder betrafen, niemals immun geworden. Doch das hier war anders. Der Anblick war so herzzerreißend, dass nur der überwältigende Drang, seine Tochter zu finden, ihn vor einem geistigen Zusammenbruch bewahrte.
David stolperte von einem Klassenzimmer zum nächsten, und der Strahl seiner Taschenlampe enthüllte das Werk von Scythe in seiner bösartigsten Form. Von der Pest infiziert, hatten sich die kleinsten Kinder auf dem Boden aneinandergedrängt wie ein Wurf Welpen, um sich gegenseitig zu wärmen. Menschliche Schneeflocken, von Blut befleckt.
Sie kann nicht hier sein. Das sind Grundschüler. Du musst die Siebtklässler suchen.
David hörte ein Stöhnen. Rasch ging er auf das Geräusch zu, indem er den Flur überquerte und in die Bibliothek trat. Im Licht der Taschenlampe sah er den Mann.
Der Rektor lag auf dem Teppichboden, den Kopf auf eine Enzyklopädie gestützt. Rodney Miller öffnete die Augen. Mit jedem keuchenden Atemzug sprühten kleine Tropfen Blut aus seinem Mund.
»Miller, ich bin’s, David Kantor.«
»Kantor?«
»Gavis Vater. Wo ist sie? Wo sind die älteren Kinder?«
Nur unter größten Mühen gelang es ihm zu antworten, und mit letzter Anstrengung murmelte er das Wort: »Sport… halle.«
Chinatown, Manhattan, New York
6:26 Uhr
Der Wind peitschte die Wellen des East River auf und verwirbelte die schlammfarbene Wolkendecke über Manhattan zu einem gewaltigen Mahlstrom. Unter der giftigen Schicht aus Kohlendioxid und chemischen Stabilisatoren kauerten sich die Scythe -Überlebenden auf den Hausdächern zusammen, wo sich jeder freie Streifen Teerpappe in das Fundament eines Flüchtlingslagers verwandelte, denn die Wohnungen waren längst den Sterbenden überlassen worden, und die Straßen gehörten den Toten.
Pankaj Patel ließ das Getriebe des VW-Busses aufheulen, als er auf der Henry Street nach Südwesten rollte und die Front des Fünf-Gang-Relikts die Markisen der Geschäfte und alle sonstigen Gegenstände beiseitedrückte, die die schmalen Bürgersteige blockierten. Er fuhr unter den Überresten der Manhattan Bridge hindurch. Bog nach rechts in die Catherine Street ab. Und rollte noch zwei Blocks weiter, bevor er gezwungen war, anzuhalten.
Die Nord-Süd-Verbindung vor ihnen – die Bowery – war praktisch ein einziges Knäuel aus Autos, Bussen und Lastwagen, die, so weit das Auge reichte, jeden Quadratmeter der Straße und der Bürgersteige bedeckten. Die meisten Fahrer, die auf der Bowery feststeckten, hatten ihre Autos auf der Suche nach Nahrungsmitteln und Toiletten längst verlassen. Die wenigen, die der Pandemie entgangen waren und die Nacht über ausgeharrt hatten, mussten feststellen, dass sie jetzt auf ihrer sicheren Insel gefangen waren und nirgendwo anders hingehen konnten.
Die Silhouette der roten Backsteingebäude mit ihren wackligen Feuerleitern ragte wie eine weitläufige mittelalterliche
Burg jenseits des endlosen Staus auf der Bowery in den Himmel.
Pankaj drehte sich zu den anderen um. »Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können hier bleiben und sterben, oder wir können versuchen, zu Fuß durch Chinatown zu gehen. Bis zum Finanzdistrikt ist es nicht mehr weit, und dann haben wir den Battery Park und das Boot von Paolos Schwager schon so gut wie erreicht. Manisha?«
»Mein Kristall ist zur Ruhe gekommen. Meine spirituelle Führerin ist einverstanden.«
»Virgil?«
»Einverstanden.«
»Paolo?«
»Francescas Fruchtblase ist geplatzt. Gerade hatte sie ihre erste Wehe. Was sollen wir tun, wenn das Baby kommt?«
»Wir müssen uns irgendeinen Notbehelf besorgen … vielleicht einen Karren oder etwas Ähnliches, in dem wir sie transportieren können. Patrick?«
Virgil versetzte Patrick einen
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