Das Ende Der Ausreden
Nächsten« lautet das achte Gebot. In der »Kleinen Geschichte der Lüge«, geschrieben von der italienischen Philosophieprofessorin Maria Bettetini, kann man nachlesen, wie über die Jahrhunderte Theologen und (Moral-)Philosophen bewegt, ja erbittert darüber diskutierten, was eine Lüge genau ist und in welchen Fällen oder ob sie überhaupt zu rechtfertigen ist.
Es gibt radikale Positionen, wie sie Augustinus, der bedeutende Kirchenlehrer und Philosoph, im 4. Jahrhundert einnimmt, der acht Formen der Lüge unterscheidet und eine jede Lüge – ausnahmslos – als unentschuldbare Versündigung gegen Gott betrachtet. Man darf einfach nie lügen. »Nicht einmal um ein Leben zu retten, denn das Leben der Seele wiegt mehr als das Leben des Leibes.« Wenn man nicht schweigen oder klug handeln könne, muss der Gläubige die Wahrheit sagen, auch wenn dadurch ein anderer Mensch zu Schaden oder gar zu Tode kommt.
Eine Position, die man heute kaum noch nachvollziehen kann. Wir sind es gewohnt, Unwahrheiten aus verschiedensten Gründen für annehmbar, akzeptabel oder eben sogar erforderlich zu halten. Gleichwohl hat das – auch wenn wir nicht in Kategorien von Moral, Sünde, Gott und Tugend denken mögen – unstrittig Konsequenzen: Wir nehmen vieles überhaupt nicht ernst, was uns andere sagen, wir gehen stillschweigend davon aus, dass es nicht stimmt. Über die Jahre werden uns die Rhetorik der Unverbindlichkeit und die ewig gleichen Textbausteine der Erfolgsstorys suspekt. Jeder schwindelt jeden an.
Was bedeutet das? Es besteht die Gefahr, dass Vertrauen und Glaubwürdigkeit in weiten Lebensbereichen korrodieren. Immanuel Kant hat sich – als ein ähnlich strikter Gegner der Lüge wie Augustinus – vehement gegen die Lüge ausgesprochen, weil sie die Grundlagen des sozialen Miteinanders gefährde. In seiner Vorlesung »Von den Pflichten gegen andere Menschen, und zwar von der Wahrhaftigkeit« führt er aus: »Der Lügner hebt aber die Gemeinschaft auf (…), weil sie die Menschen unfähig macht, aus dem Gespräch des anderen etwas Gutes zu ziehen.« Wahr zu sprechen sei eine unbedingte Verpflichtung, nicht nur dem Einzelnen, sondern der ganzen Gesellschaft gegenüber. Lügen zerstöre das Fundament des gegenseitigen Vertrauens in der Gesellschaft und sei daher als Verbrechen gegen die Menschheit zu betrachten.
Mag uns das mehr als zweihundert Jahre später auch übertrieben anmuten, so ist der von ihm beschriebene Effekt dennoch offenkundig. Wenn man umgangssprachlich »der Politiker« fast gleichsetzt mit »Der spricht nicht aufrichtig«, bedeutet das etwas für Legitimität. Wenn ich sowieso nicht glaube, was mir ein Mitarbeiter einer Servicehotline sagt, hat das Auswirkungen auf mein Vertrauen in diese Firma.
Ich weiß, dass es zur Aufgabe einer Sekretärin gehört, ihren Chef abzuschirmen. Bei der Auskunft, dass der, den ich sprechen möchte, »leider gerade in einem Meeting« ist, weiß ich nicht, ob er wirklich tagt oder nicht (mit mir) sprechen will. Kein Drama, wir alle kennen das Spiel ja, spielen es selbst. Aber das genau hat einen Effekt; unversehens braucht es eine neue Orientierung für Wahrheit, für das, was ich glauben kann.
Bestimmte Fragen und Antworten sind in ihrer Abfolge dermaßen ritualisiert, dass man, auch ohne dabei gewesen zu sein, genau weiß, was gesagt wurde. Es ist schlechterdings undenkbar, dass bei einem formellen Abendessen auf die Frage der Gastgeberin, wie es den Gästen denn schmecke, irgendeiner reklamiert, dass das Lamm wohl zehn Minuten zu lange im Ofen war. Üblicherweise kommt das Ritual sogar ohne diese explizite Frage aus, und ganz von selbst stimmen die Gäste zum gegebenen Zeitpunkt das Loblied auf ihre Kochkünste an (»Köstlich!!«).
Und woher weiß ich jetzt, ob es den Gästen wirklich schmeckt? Ihren Worten jedenfalls kann ich es nicht entnehmen.
Es hat also auch sein Gutes, wenn jemand etwas wahrheitsgemäß sagt, was ich vielleicht nicht besonders gerne höre: Ich kann mich dann eher darauf verlassen, dass er, wenn er etwas Nettes sagt, es auch so meint. Einer Verkäuferin, die zu mir sagt: »Ziehen Sie das schnell aus, das steht Ihnen ja gar nicht!«, glaube ich viel eher, als wenn ich angeblich alles tragen kann. So zeigt sich, dass das Unangenehme Vertrauen schaffen und das Angenehme Zweifel erzeugen kann.
2 Wie wir mit Ausreden unproduktive Spiele spielen
Wenden wir uns nun jenen Ausreden zu, die zwar unbestreitbar Nutzen haben, aber deren Nachteile
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