Das Ende der Liebe
schreckliche Wahrheit verkündende, gleichwohl machtlose Sancho Panza, ist es auch, der plötzlich fragt: »Wie spät ist es eigentlich?« Zum Bewusstsein des Lebens kommt jetzt hinzu: das Bewusstsein vom Lebensende, das Zeitbewusstsein, das Todesbewusstsein. Die freien Menschen erkennen: In einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten ist der letzte Zwang die Zeit .
Die Zeit ist das Einzige, das unüberwindbar und unverrückbar bleibt. Wo einst die Eltern, die weltlichen und religiösen Herrscher sagten: »Du musst!«, da sagt jetzt die Zeit: »Du musst!« Wo die Eltern sagten: »Du musst dir einen Gatten nehmen!«, da sagt jetzt die Zeit: »Du musst dir einen Gatten nehmen!« Der eine Ungehorsam hat so böse Folgen wie der andere: als Verstoßener der Familie zu leben, als Verstoßener der Zeit.
Die freien Menschen versuchen immer, ihre unbegrenzten Möglichkeiten zu verwirklichen – bis sie an die Zeitgrenze rühren, die Zeitgrenze überschreiten. Alles, was sie tun, tun sie ausschließlich unter dem Zwang der Zeit. Jede Entscheidung [291] und Wahl, die sie treffen, treffen sie ausschließlich unter dem Zwang der Zeit. In jeder Angelegenheit nutzen die Menschen ihre Freiheit, bis sie eintreten in den furchtbaren Herrschaftsbereich der Zeit. Die freien Menschen sind Untertanen der Zeit, sie leben in einer Zeitdiktatur.
Solange noch die gesellschaftliche Ordnung die Menschen zwang, alles zur sogenannten rechten Zeit zu tun (sich auszubilden, zu arbeiten, zu lieben), kamen die Menschen mit der Zeit selbst kaum in Berührung. Die gesellschaftliche Ordnung agierte an ihrer statt, in ihrem Sinn. Die gesellschaftliche Ordnung war der Polizist der Zeit. Die freien Menschen dagegen werden unmittelbar von der Zeit beherrscht. Sie führen ein Leben unter Uhren. Der große Bruder, der sie überwacht – er hat Zeiger in den Augen. Zwischen den freien Menschen und der Zeit existiert keine gesellschaftliche Ordnung mehr als Vermittler. Die freien Menschen hören bei allem, was sie tun, immerzu die Zeitansage, eine Stimme, die ihnen sagt: »Du bist schon zu spät. Deine Zeit läuft ab. Beeil dich. Du musst jetzt handeln.«
Im Bewusstsein der freien Menschen werden die unbegrenzten Möglichkeiten also einzig noch begrenzt durch die Zeit, den Tod. Tatsächlich leben die Menschen in einer ständigen Todesangst, Angst vor der furchtbaren Diagnose, dem Infarkt, dem Flugzeugabsturz. Noch heute kann es vorbei sein.
Wie viel Prozent ihrer Möglichkeiten werden sie dann verwirklicht haben? Von einer Unendlichkeit von Möglichkeiten sind es immer gleich viel – annähernd Null. Die Bilanz ist immer fürchterlich. Wenn die freien Menschen immerzu im Zustand der Sehnsucht und der Scham existieren, so ist ihre Todesangst die Angst vor der ultimativen, nicht mehr zu erfüllenden Sehnsucht, der ultimativen, nicht mehr heilbaren Scham. Denn der Tod schließt ja die unendliche Suche und [292] Selbstentwicklung ab, die die Menschen aus der Sehnsucht und Scham eigentlich herausführen sollen. Der Sterbende müsste, so denken die Menschen, sich gestehen: »Mehr als dies bin ich also nicht geworden! Mehr als dies hab ich also nicht gefunden! Ich bin nichts geworden, habe nichts gefunden – gemessen an meinen unbegrenzten Möglichkeiten. Ich sterbe in der größten Sehnsucht, der tiefsten Scham. Im tiefsten Unglück. Es ist, als hätte ich gar nicht gelebt. Oder nur als traurige Gestalt. Es ist, als sollten meine Sehnsucht und Scham mich überleben.«
Wenn ein Arzt den freien Menschen sagte: »Sie haben nur noch sechs Monate Zeit, vielleicht ein Jahr. Tun Sie jetzt, was sie noch unbedingt tun wollen. Nehmen Sie Abschied«, dann würden die Menschen sagen: »Aber das ist ja unmöglich. Ich will doch noch unendlich viel tun! Und sein! Und haben! Was soll ich denn mit sechs Monaten, was mit einem Jahr!« Nicht begangene Sünden würden die freien Menschen angesichts des nahen Todes reuen, sondern ungenutzte Möglichkeiten.
Das bedeutet auch: Je größer ihre Hoffnung, umso größer die Angst vor dem Tod, der alle Hoffnungen zunichte machen würde. Hoffnung und Todesangst fallen in eins. Im Zustand der Euphorie tasten die freien Menschen nach Tumoren.
Dieser Widerspruch zwischen den unbegrenzten Möglichkeiten und der begrenzten Zeit äußert sich in einem Gefühl rasender Zeit, einer Hypertrophie des Zeitsinns. Der Zeitsinn der freien Menschen hat sich überausgeprägt wie der Geruchssinn des Maulwurfs. Wie in der Welt des Maulwurfs alles von
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