Das Ende der Liebe
sein, die früher Eltern und Gesellschaft vertraten.
Die Liebe hat sich die Zwecke also einverleibt. Solange andere die Verantwortung für die Zwecke trugen, konnten die Menschen sich der Liebe überlassen, dem Wahnsinn und der Verrücktheit, der Liebe als Krankheit. Sie konnten wie Kinder (die sie waren) darauf zählen, dass die Eltern sie schon zwingen würden – nicht zu ihrem Glück, doch zu dem, was lebensnotwendig [298] war. Sie konnten alle Gründe ignorieren, die weltlichen und geistlichen, die Zeit – weil andere an sie dachten. Sie fühlten sich nicht einmal verantwortlich für ihre Seele, ihren Schmerz. Sie machten sich zum Spielball zwischen ihrem Liebesschicksal und ihrem Gesellschaftsschicksal, ihren eigenen Gefühlen und fremden Mächten. Die Möglichkeit der Liebe fiel zusammen mit der Verantwortungslosigkeit und Machtlosigkeit der Liebenden.
Die freien Menschen dagegen tragen in allem die Verantwortung selbst. Sie müssen ihr Leben selbst unter Kontrolle bekommen. Daher soll ihre Liebe eine Zweckliebe sein. Die Menschen lieben ihre Zwecke mehr, als sie die Liebe lieben. Sie lieben ihre Lebensziele mehr als das Gefühl, das alle Ziele gefährdet, alle Pläne durchkreuzt.
Es ist eine bekannte Erscheinung der Freiheit, dass in ihr alle Verantwortlichkeiten gewissermaßen eine Ebene tiefer rutschen: von den Organisationen – dem Staat, den Unternehmen – zu den Menschen, den Bürgern und Mitarbeitern, von der Gesellschaft in die Seele, vom Verstand ins Gefühl. Die tiefere Ebene muss nun, neben ihren eigenen Aufgaben, die Aufgaben der höheren Ebene mitbewältigen. Sie verliert also ihren ursprünglichen Charakter, wird zweckentfremdet. Der Mensch errichtet in sich selbst eine Organisation, einen Staat, macht der ganzen Gesellschaft Platz in seiner Seele, versucht, mit dem Gefühl zu denken.
Wie aus der unendlichen sexuellen Freiheit folgt, dass der Mensch nun mittels des Sex die Liebe sucht, dass der Sex zur Liebe führen soll, so folgt aus der unendlichen Liebesfreiheit, dass die Liebe selbst alle Zwecke erfüllen soll, dass sie die Verantwortung für die Zwecke übernehmen muss. Der Sex, der von keinem mehr ins Reich der Liebe gezwungen wird, versucht nun selbst, dorthin zu gelangen; die Liebe, die von keinem [299] mehr ins Reich der Zwecke gezwungen wird, versucht nun selbst, dorthin zu gelangen.
Die Menschen haben alles verinnerlicht, was ihnen früher von außen aufgezwungen wurde. Je mehr sie ihren Gefühlen und Erregungen folgen durften, ohne auf anderes zu achten, umso mehr versuchen sie, das Andere mittels ihrer Gefühle und Erregungen zu erreichen: die Liebe durch den Sex, die Zwecke der Vernunft durch die Liebe. Die Befreiung von allen Zwecken führt zur Zweckbesessenheit der Befreiten. Die unendliche Freiheit führt zu einem Verantwortungsextremismus, Verinnerlichungsextremismus, Zweckextremismus.
Die freien Menschen sind besessen von ihren Zwecken. Sie denken an nichts anderes als daran, ob der Mensch, den sie vor sich haben, auch ein guter Partner sei, ob mit ihm zu leben sich lohne, ob er sie weiterbringt, ob er ihnen, wie sie sagen, gut tut .
Unter allen Zwecken, die die Menschen verfolgen, hat unter den Argusaugen der Vernunft am Ende jedoch nur einer Bestand: die therapeutische Selbstüberschreitung, die Seelenruhe.
Die Menschen sagen: »Ich will nicht mehr verletzt werden. Ich will keinen Stress mehr. Ich habe genug von den Gestörten. Von denen, die Angst vor Nähe haben, den Untreuen und Eifersüchtigen, den problematischen Psychen. Ich will meine Ruhe haben. Ich will mein Leben leben. Ich brauche einen Partner. Die Schönen haben mir nicht gut getan, die Erregenden noch weniger. Die Gleichheit war immer nur die Gleichheit der Neurosen. Die pausenlose Herausforderung hat mich kaputt gemacht, der Geliebte als Konkurrent und Lehrer ist eine Unerträglichkeit gewesen, Statthalter aller gesellschaftlichen Zwänge, statt Schutz vor ihnen, eine weitere Öffentlichkeit, keine Privatsphäre.«
[300] Das Bewusstsein hat der Idee des Geliebten ja ohnehin das Vertrauen entzogen. Es hat den Geliebten als Projektion kritisiert, die Fantasie vom Geliebten als Neurose und Produkt der Medien- und Pornoindustrie, die Liebe als Selbst- und Kontrollverlust. Die Menschen sagen: »Wenn ich geliebt habe, habe ich auf die furchtbarste Weise die Kontrolle verloren, mich selbst verloren. Die Liebe hat mir niemals gut getan.«
Die Menschen ersetzen also das romantische Ideal durch das
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