Das Ende der Liebe
Die Unendlichkeit der Möglichkeiten, die meine Nerven aktivierte, verdammte mich im Äußeren zur Passivität. Ich saß auf einem Stuhl aus Stein und sah den Passanten [288] nach. Ich konnte meinen Platz am Wegesrand nicht verlassen, denn dann würde ich den Richtigen womöglich verpassen …«
Die Menschen entwickeln also immer mehr ein Bewusstsein ihres Lebens und ihrer Welt. Zu ihrer Scham angesichts der Tatsache, dass sie in der Liebe und der Arbeit, in der Selbstentwicklung und der Wahl des Wohnorts hinter den unbegrenzten Möglichkeiten zurückbleiben, kommt jetzt die Scham angesichts eben dieses Strebens selbst . Die Menschen schämen sich nun auch ihrer endlosen Suche, ihrer Hoffnung und Erinnerung, ihrer sogenannten Schwäche und Neurose in Bezug auf die unbegrenzten Möglichkeiten.
Sie sagen: »Ich muss mich endlich zufrieden geben. Mein Verlangen, meine Sehnsucht und mein Ehrgeiz sind beschämend. Das Ablehnenswerteste an mir ist meine stete Selbstablehnung, die Ablehnung von allem, was ich bin und was ich habe.« Die Menschen schämen sich also nicht nur, dass sie nicht weiter gekommen sind im Leben, sondern auch, dass sie immer weiter kommen wollen . Sie schämen sich ebenso ihrer Langsamkeit wie ihres Wunsches, schneller zu werden.
Die Welt vermittelt den freien Menschen eine doppelte Botschaft: »Wenn du deine unbegrenzten Möglichkeiten nicht verwirklichen kannst , dann bist du ein Versager.« Und: »Wenn du deine unbegrenzten Möglichkeiten verwirklichen willst , dann bist ein Neurotiker und Narzisst.« Dieser Widerspruch wird in den einen Satz geschlossen: »Du kannst deine unbegrenzten Möglichkeiten nur dann verwirklichen, wenn du sie nicht mehr verwirklichen willst, wenn du deinen Narzissmus überwunden hast.« Das ist die doppelte Botschaft der Freiheit.
Die freien Menschen als Künstler versuchen, ihren Berühmtheitswunsch zu überwinden – da sie denken, dass nur [289] jemand, der seinen Berühmtheitswunsch überwunden hat, berühmt werden kann (sich endlich auf die Arbeit konzentrieren kann).
Die freien Menschen als Liebessuchende sagen: »Ich muss endlich aufhören zu suchen. Ich kann den Besten nur dann finden, wenn ich aufhöre zu suchen.« Die doppelte Botschaft lautet: »Du musst den Besten finden. Doch erst wenn du nicht mehr den Besten finden willst, wenn du deinen Perfektionismus überwunden und deine Suche aufgegeben hast, kannst du den Besten finden, die große Liebe.«
So macht Bewusstsein Gespaltene aus allen freien Menschen. Welche Richtung sie auch einschlagen, sie gehen hinein in die Scham. Sie entwickeln einen Überdruss der Suche, einen Freiheitsekel. Über jedem Ereignis schwebt ein »Schon wieder!« Über allem, was die Menschen tun, türmt sich Bewusstsein. Jahre- und jahrzehntelang türmt sich das Bewusstsein höher und höher wie Gepäck auf einem Esel, der trotz der wachsenden Last weitergeht und also mit immer mehr Bewusstsein beladen wird. Die freien Menschen warten vergeblich darauf, dass ihr wachsendes Bewusstsein eine Wandlung herbeiführe; dass das kritische Bewusstsein ihrer Wünsche ihre Wünsche aufhebe – ihre Sucht, ihre Muster und Mechanismen; dass das Bewusstsein ihres Handelns beginne, ihr Handeln zu verändern.
Das Bewusstsein wird zu einem ständigen Begleiter, doch es kann die Menschen von ihrem Weg nicht abbringen. Die Menschen tun jetzt alles im Bewusstsein der Lächerlichkeit, der Schuld; doch keine Erkenntnis führt zu einer Lösung ihres Konflikts, im Gegenteil, die Last der Freiheit wird nur vermehrt durch die Last der Erkenntnis, der Erkenntnis- und Bewusstseinsfreiheit.
Die unendliche Freiheit ist überhaupt nur deshalb so unerträglich, weil sie zugleich unendliche Bewegungsmöglichkeiten [290] erzeugt und unendliche Bewusstseinsmöglichkeiten – also ein Bewusstsein, das jede Bewegung, jede Berufs-, Wohnort-, Liebes- und Sexbewegung als lächerliches und verantwortungsloses Getriebensein begreift und kritisiert, jede Aktivität als Passivität, jeden Aufstieg als freien Fall (auf die Erfolgsmöglichkeiten zu), jede Eroberung als Niederlage (gegenüber der Versuchung). Das Bewusstsein begleitet die freien Menschen wie Sancho Panza seinen Don Quichote; es gibt ihnen, mit seinem Sinn für Ironie, ihren Namen: »die freien Menschen« – und die Menschen müssen fortan damit leben, dass ihnen alles, was sie tun – was sie weiterhin tun müssen –, als böser Witz erscheint.
Und dieses Bewusstsein, dieser pausenlos redende, die
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