Das Erbe
Prolog
Roberts Notizbuch
Von der Felswand fiel kalte Luft. Robert zog den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch unter das Kinn. Der schmale Pfad, der zum Solomonfelsen führte, war steil und immer wieder blieb er mit der Kleidung an den Wacholderbüschen hängen, die hier so dicht standen, dass der Pfad kaum noch erkennbar war.
Robert hätte den Weg blind gehen können. Die Felskante, die zum Green Eye abfiel, war ihm vertraut. Hier, an dieser Stelle des Sees, wäre er fast ertrunken, nur weil er ein Mädchen hatte retten wollen, das gar nicht existierte.
Seitdem war dies ein magischer Ort für ihn. Dieser Tag war wie eine Neugeburt gewesen. Darüber sprach er nicht. Nicht mit Julia, nicht mit David. Robert vertraute seine Gefühle niemandem an.
Er hatte zugesehen, wie seine Mutter verblutete. Das Bild, wie sie hinter dem Sofa lag, war fest in seinem Kopf verankert. Er hatte es nicht verdrängt und er hatte nicht gelernt, mit dem Schmerz umzugehen, keine Sekunde. Vielleicht wäre es ihm gelungen, wenn er dem Ereignis eine Logik hätte zuordnen können. Aber das war einfach nicht möglich.
Sterben war logisch, ja.
Der Tod, so wie er ihn erlebt hatte, war es nicht.
Robert hatte seine Mutter im Stich gelassen. Es war die schlimmste Entscheidung gewesen, die er je hatte treffen müssen. Er hatte damit sein eigenes Leben geschützt. Andere würden das vielleicht auch als Feigheit bezeichnen. Aber er war seinem Gefühl und seinem Verstand gefolgt. Sterben wäre einfach gewesen, am Leben zu bleiben, war wohl die menschlichste Entscheidung, die man treffen konnte.
Robert setzte einen Fuß vor den anderen. Bald hatte er das Ende des Felsrückens erreicht und nahm seinen gewohnten Platz ein.
Lange saß er an diesem Ort, regungslos. Er dachte über das Labyrinth nach, das sich unter den Wellen befand. Tief unten im See wölbte sich die Glaskuppel über der Kathedrale, in der die versteinerten Körper von Grace Morgan und Milton Jones lagen.
Es gab so viele Phänomene im Tal, die er klären musste und die seinen Verstand überstiegen. Was bedeutete, diesmal musste er wieder seinen Gefühlen und seiner Intuition folgen.
Die anderen sprachen ständig davon, dass er ein Genie sei. Aber das war nicht der Fall. Er hätte es ihnen erklären können. Im Grunde war es nur so, dass seine rechte und linke Gehirnhälfte im Gleichgewicht waren. Er handelte nicht nur nach rationalen, analytischen und mathematischen Prinzipien, sondern ließ auch seine kreative, intuitive und gefühlsmäßige rechte Gehirnhälfte zu Wort kommen.
Und genau darauf kam es jetzt an.
Er schlug das Notizbuch von Moleskine auf. DIN A6. Seine Schrift war winzig und für andere kaum zu entziffern, aber genau so waren die Notizen in seinem Kopf abgebildet. Mikroskopisch klein.
Und warum?
Weil es um Symbole ging, um Zeichen, um Formeln.
Genauer gesagt, um eine Formel.
Die Formel, die Dave Yellad aufgestellt hatte.
Sie war unvollendet und bildete doch im Kern Dave Yellads Welt ab.
Robert dachte an die Symbole, die er im Tal gefunden hatte. Sie waren in Bäume, Steine und Felswände geritzt. Wenn man einmal wusste, worauf man zu achten hatte, sah man sie fast überall.
Er wusste es. Wusste es ganz sicher. Hier in diesem Notizbuch lag die Antwort. Sie war in den Symbolen versteckt. Sie waren der Schlüssel zur Formel.
Wie schon Dutzende Male zuvor legte er Listen an. Erst schrieb er die Zeichen, die in der Formel verwendet wurden, untereinander, dann die Symbole.
Oft fragte er sich, ob es einfach nur Angst war, die ihn hinderte, die Formel zu entziffern. Angst davor, die unheilvolle Büchse der Pandora zu öffnen, die alles Unglück in die Welt brachte. Und dieses Tal, war es wirklich die Büchse?
Robert zog die Beine an, riss von dem benachbarten Wacholderbusch einen Zweig ab und roch daran. Der würzige Duft stieg ihm sofort in die Nase.
Er konnte es sich nicht leisten, dass Angst ihm im Weg stand. Er konnte die anderen nur retten, wenn er diese Formel vollendete. Und um das zu tun, musste er endlich Entscheidungen treffen.
Er griff nach dem Füllfederhalter und blätterte die letzte Seite seines Notizbuchs auf, doch dann ließ er es wieder sinken.
Er starrte auf den See hinaus, lauschte dem gewaltigen Lärm der Wellen. Seitlich von ihm erhob sich der Ghost über dem Tal. Alles hatte eine Bedeutung. Er musste es nur zulassen.
Es verging noch fast eine Stunde, bis sich plötzlich ein Lächeln auf Roberts Gesicht ausbreitete. Dann nahm er seinen
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