Das Erbe
wenn die Schuldgefühle gerade um diese Zeit im Jahr die Tendenz hatten, sich wie ein Krebsgeschwür in mir auszubreiten. Dagegen würde es nie ein Mittel geben. Ich musste damit leben.
Wir hatten verabredet, dass jeder von uns seit den Ereignissen im letzten November seine Geschichte erzählte. Ich war noch nicht an der Reihe, aber ich wusste: Katie, Julia und Chris trugen keine Schuld an dem, was ihnen zugestoßen war. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Feind, ja, aber mein Feind war größer, er war unbesiegbar. Allenfalls konnte ich ihn besänftigen. Mehr nicht.
Ich wusste, wenn ich ihnen meine Geschichte erzählte, würden sie zu mir halten, sie würden versuchen, mich davon zu überzeugen, dass ich keine Schuld hatte. Dass ich ein Opfer war. Aber ich war nicht tot, oder? Ich lebte. Ich hatte die Chance, ja, die verdammte Pflicht weiterzuleben.
Der 11. 03. 2009 überlagerte alles. Er war mein D-Day. Mein elfter September.
Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf mein Buch. Die Krankheit, die im Vordergrund stand, war die Homophilie, die Bluterkrankheit. Königin Victoria war daran erkrankt, genauso wie ihr Enkel, der russische Zarensohn Alexej. Unterbrechen konnte man die Kette nur, wenn die weiblichen Nachkommen keine Kinder mehr bekamen. Als ob das eine Lösung war.
Die Tür wurde so abrupt aufgerissen, dass ich das Buch fallen ließ. Ich fuhr herum und sah Robert in der Tür stehen, in der Hand eines seiner schwarzen Mininotizbücher. Ehrlich, ich fragte mich, wie viele dieser Dinger er bereits vollgekritzelt hatte.
»David, ich glaube, ich hab’s.«
»Rob, ich habe keine Zeit. Ich bin nicht wie du. Ich habe kein fotografisches Gedächtnis. Bin nicht geboren mit dem Wissen der Menschheit.«
Robert machte eine Handbewegung. Es war völlig untypisch für ihn, sich in solcher Aufregung zu befinden.
»Hör mir zu. Wir müssen es nur beweisen.«
»Wovon sprichst du?«
»Es geht nur heute. Ich weiß es.«
»Ich muss lernen, Rob. Morgen ist meine Bio-Prüfung. Ich habe keine Zeit für deine Theorien.«
Natürlich ließ Robert sich nicht beirren. Wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte niemand ihn davon abbringen. Nicht einmal Julia.
»Wir sind kurz davor, die Formel zu entziffern, und du denkst an meine Schwester?«
Wie schaffte Robert nur, Gedanken zu lesen? So etwas war verrückt. Und lästig, wenn man erst einmal begriffen hatte, dass es tatsächlich funktionierte.
»Echt, es wird Zeit, es ihr zu sagen.«
»Was und wem?«
»Julia. Sag ihr, dass du sie liebst.«
»Und was soll das bringen?«
»Die Wahrheit.«
»Meinst du die Wahrheit, dass ich mich zum Teufel scheren soll?«
»Zum Beispiel.«
»Weißt du, Rob, du bist ein brillanter Mathematiker und ja, ich beneide dich, dass du dich auf all die Prüfungen nicht vorbereiten musst, weil du den Stoff auf geheimnisvolle Weise irgendwo in deinem Gehirn abgespeichert hast, in dem so etwas wie eine Digitalkamera implantiert sein muss, sonst …«
»Sag ihr, dass du sie liebst. So einfach ist das.«
»Und wenn sie mich auslacht?«
»Sie wird nicht lachen. Sie ist meine Schwester.«
»Und wenn sie mir einen Korb gibt?«
»Wird sie.«
»Was soll es dann für einen Sinn haben?«
»Einfache Logik. Primitive Psychologie«, erklärte Robert. »Wenn du die Wahrheit aussprichst, verlieren deine Gedanken … ihren Zauber.«
Typisch Rob. Ein Gehirn im Kopf, das mit Zahlen und Formeln ausgelastet war, aber immer noch Platz hatte für die komplizierten Mechanismen von Gefühlen.
»Chris wird mich lynchen.«
»Kann gut sein, aber dann bist du endlich bereit für jemand anderen.«
»Und wer soll das sein?«
»Du bist mit Blindheit geschlagen, David. Du wirst das schon noch begreifen. Komm, wir haben etwas zu erledigen.«
»Genau. Ich muss diese verdammten Erbkrankheiten in meinen Kopf kriegen.«
»Vergiss sie. Es geht um die Formel, David.«
»Welche Formel?«
»Dave Yellads Formel.«
»Du kannst sie einfach nicht ignorieren, was?«
»Ich darf sie nicht ignorieren. Das ist das, was ihr einfach nicht kapiert. Mit ihr hängt alles zusammen. Sie ist eine Art Algorithmus. Eine Anleitung, was wir tun müssen, um hinter das Geheimnis zu kommen. Dazu müssen wir hinunter ins Labyrinth. Heute.«
In meinen Ohren klang das alles so absurd, dass ich den spöttischen Unterton nicht vermeiden konnte.
»Heute. Und das Datum steht in der Formel? 10. 03. 2012?«
»So einfach ist das nicht.«
»Nein?«
Robert zog das
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