Das ewige Lied - Fantasy-Roman
sogar ein Laden für magische Artefakte hatte seinen Platz in Uhlenburg gefunden. Dort kauften zumeist Durchreisende, obwohl Winnifried, die Inhaberin, allerlei Gewinn mit kleinerem Schnickschnack zu machen wusste. Junge Damen besorgten sich bei ihr Liebeszauber, um ihren Auserwählten an sich zu binden, junge Männer kauften Amulette, um ihre Kampfkraft zu mehren. Jayel allerdings hielt diesen Plunder für Unsinn und lachte darüber. Magie, so war sie sich sicher, konnte nur von Meistern dieses Handwerks gebraucht werden – und Winnifried verkaufte zwar die nötigen Zutaten, war selbst jedoch mit Sicherheit nicht zauberkundig. Jayel wusste, dass dazu ein bestimmtes, ererbtes Talent nötig war, und sie war sich ziemlich sicher, dass die dicke Winnifried es nicht besaß.
Jayel genoss es, durch die kopfsteingepflasterten Straßen von Uhlenburg zu gehen. Als kleines Mädchen hatte sie sich häufig zwischen den alten Fachwerkhäusern herumgetrieben, hatte sich in den engen, verwinkelten Gassen versteckt und heimlich die Menschen beobachtet – wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, sich mit den Freunden ihres Bruders zu prügeln. Jayel war zierlich, aber zäh, und sie genoss eine gewisse Achtung unter den kleinen Jungen der Stadt. Diesen Respekt musste sie mit manch blutiger Nase bezahlen. Tria hatte einige Male die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie ihr kleines Mädchen abends in zerzaustem Zustand in Empfang nahm. Als Jayel älter wurde, zog sie sich mehr und mehr in sich zurück. Sie merkte, dass ihr Bruder und dessen Freunde anderes im Sinn hatten als sie.
Ihr Lieblingsplatz wurde damals der alte Glockenturm am Marktplatz. Dort gab es einen Mauervorsprung, in dem einst ein Krähenpaar genistet hatte. Von dort aus hatte Jayel einen wunderbaren Blick über den Marktplatz und einige angrenzende Straßen, blieb dabei selbst jedoch ungesehen. Viele Reisende kamen auf ihrem Weg durch Uhlenburg, und Jayel verbrachte viel Zeit damit, sich Geschichten über die Unbekannten auszudenken. Lächelnd erinnerte sich das Mädchen an eine in Pelze gehüllte Dame, die sie mehrere Tage lang fasziniert verfolgt hatte. Jayel war damals fest davon überzeugt gewesen, dass es sich um die Kaiserin handelte. Heimlich war sie ihr auf dem Markt hinterher geschlichen, einmal sogar auf das Dach des Schuppens geklettert, der neben ihrer Herberge stand. Wie groß war ihre Enttäuschung, als sie herausfand, dass die Frau nicht die Kaiserin, sondern nur die Gemahlin eines reichen Kaufmannes war. Damals war in der kleinen Jayel der Wunsch erwacht, eines Tages der echten Kaiserin gegenübertreten zu dürfen.
Als Jayel am Marktplatz ankam, herrschte Hochbetrieb. Vor den Verkaufsständen drängten sich die Menschen dicht an dicht. Es ging eifrig hin und her, und in der Stadt hallte ein lautes Sprachgewirr. Uhlenburg war unter anderem deshalb zu einem bedeutenden Handelsort geworden, weil es direkt an der Reiseroute lag, die das Land Celane mit den südlichen Reichen verband. Die Großkaiserin Cwell hatte ihren Palast in der Hauptstadt Farseth, die weiter im Norden lag, und über die „Hohe Straße“, die direkt an Uhlenburg vorbeiführte, reisten nicht nur Händler und Abenteurer, sondern auch die kaiserlichen Diplomaten. Die Verbindung in die südlichen Reiche war politisch gesehen eine der wichtigsten, wie Jayel gelernt hatte. Denn die Länder, die Celane im Norden, Osten und Westen umschlossen, waren seit Jahrzehnten friedlich gesinnt. Die östlichen Reiche unter der Herrschaft des Weisen Lei betrieben ausgleichende Politik mit allen anderen Ländern. Früher waren sie ein kriegerisches Volk gewesen, doch schon seit Jahrhunderten führte es ein zufriedenes Leben mit Ackerbau, Handel - und reichsinternen Intrigen. Jayel hatte davon gehört, denn der Broterwerb eines Barden bestand darin, solche Gerüchte weiterzutragen.
Die Eisländer im Norden waren weniger aufregend. Der einzige Grund, warum sie niemand erobern wollte, lag darin, dass es dort nichts zu holen gab. Unendliche, kahle Steppe, so hieß es. Zwar gab es dort Menschen, doch sie lebten in kleineren Gruppen zusammen und zogen als Nomaden durch die karge Landschaft. Jayel konnte sich das Leben in dieser Einöde nicht recht vorstellen, doch irgendetwas musste es schließlich geben, das die Menschen dort hielt.
Aquien im Westen schließlich war ein Meeresreich. Die Grenze zu Celane war das Meer. Ob es auf der anderen Seite ein Ufer gab, wussten wahrscheinlich nur
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