Das Experiment
können.
Kurz vor Mitternacht schlug ein Blitz in die Schule ein und setzte sie in Brand. In kürzester Zeit stand das gesamte Gebäude in Flammen. Gegen Morgen waren eine stehen gebliebene Mauer und ein verkohlter, immer noch rauchender Holzhaufen alles, was an die Schule erinnerte.
Edward Fontaine stand auf dem Spielplatz und starrte ungläubig auf das, was vom Gebäude übrig war. Er besaß nicht die Mittel, um noch einmal von vorne anzufangen, und wieder als Lehrer zu arbeiten, erschien ihm keine geeignete Möglichkeit. Sein Traum war ausgeträumt, sein Herz gebrochen.
Innerhalb einer Woche waren alle Schüler auf umliegende Privatschulen umverteilt worden, einige waren auch auf öffentliche Schulen zurückgekehrt. Die sieben Mädchen, die sich als besonders begabt entpuppt hatten, wurden in drei verschiedenen Schulen untergebracht. Das Leben ging weiter, aber nicht ihr besonderer Unterricht. Sie wurden größer, und jeden Abend brachten ihre Eltern sie zu Bett, ohne zu ahnen, welche Zeitbombe in ihren Köpfen tickte.
1. KAPITEL
H eute, Seattle, Washington
„Mama, Mama, Hunger. Will einen Keks!“
Die siebenundzwanzig Jahre alte Emily Jackson sah von ihrem Computer auf und blickte zur Uhr. Sie verdrehte erschrocken die Augen, dann stand sie auf, um sich um ihren zweijährigen Sohn zu kümmern. Kein Wunder, dass er Hunger hatte. Es war bereits halb eins. Sich um ein Kind zu kümmern und gleichzeitig von zu Hause aus weiter als Buchhalterin zu arbeiten, war nicht so einfach, wie sie es sich anfangs vorgestellt hatte, auch wenn der Computer für den Kontakt zu ihren Kunden ein Geschenk des Himmels gewesen war.
„Eine Minute, mein Schatz“, rief sie, gab ihm einen Keks, küsste ihn flüchtig auf die Stirn und eilte zum Kühlschrank. Es war noch genug Essen von der letzten Mahlzeit übrig, und er befand sich in einer Phase, in der er praktisch alles aß. Sie würde nur ein paar Minuten benötigen, um etwas in der Mikrowelle aufzuwärmen.
Drei zugedeckte Schüsseln und sein Fläschchen standen bereits auf der Arbeitsplatte, und gerade wollte sie nach der vierten Schüssel greifen, als das Telefon klingelte.
„Das fehlt gerade noch“, murmelte sie und nahm den Hörer ab. „Jackson … ja, hier spricht Emily. Wer ist da?“
Nach einer kurzen Pause am anderen Ende der Leitung hörte sie auf einmal fernen Donner, gefolgt von einem Glockenspiel wie an der Eingangstür zu einem Geschäft. Als sie das Geräusch wahrnahm, schaltete sich ihr Verstand ab. Sie wandte ihr Gesicht der Wand zu, den Hörer immer noch ans Ohr gepresst. Die kalte Luft aus dem Kühlschrank strich über ihre Beine, aber sie spürte es nicht. Ihr Geist war schon längst woanders.
Im nächsten Moment legte sie den Hörer auf die Arbeitsplatte, nahm eine Packung Kekse und eine Flasche Milch für ihr Kind, hob den Jungen auf den Arm und brachte ihn wortlos zu Bett. Sie gab ihm die Kekse und die Milch, dann drehte sie sich um und ging weg.
Der Junge war mit dem zufrieden, was seine Mutter ihm gegeben hatte. Und während er sich über die Kekse hermachte, stieg Emily in ihren Wagen und rangierte ihn aus der Einfahrt zum Haus. Eine Nachbarin winkte ihr von der anderen Straßenseite zu, doch Emily schien sie nicht zu sehen. Die Nachbarin dachte sich nichts dabei, bis ihr auffiel, dass Emily die Haustür hatte offen stehen lassen.
„Oh je“, rief sie und ging zum Haus, um ihrer nachbarschaftlichen Pflicht nachzukommen. Als sie die Veranda erreicht hatte, übermannte sie ein plötzliches Gefühl der Neugierde. Anstatt die Tür zuzuziehen, dachte sie daran, einen Blick ins Haus zu werfen. Was würde ein harmloser kurzer Blick schon ausmachen?
Ein wenig schuldbewusst schaute sie über die Schulter, dann trat sie ein und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment lang stand sie einfach nur da, bewunderte die Farbgebung und die ausladenden Polstermöbel im Wohnzimmer rechts von ihr. Sie machte ein paar Schritte, als sie ein Geräusch aus der Richtung des Schlafzimmers hörte. Wie dumm von ihr! Nur weil Emily weggefahren war, musste das Haus nicht zwangsläufig verlassen sein. Ihr Mann Joe war Fluglotse, und vermutlich hatte er seinen freien Tag.
„Joe? Joe! Ich bin’s, Helen. Emily hat die Tür offen stehen lassen, und ich bin nur schnell rübergekommen, um sie zuzumachen.“
Niemand antwortete, aber sie konnte hören, dass jemand im Haus war.
„Joe? Ich bin’s, Helen. Bist du angezogen?“
Ein grelles Kreischen ließ sie zusammenzucken.
Weitere Kostenlose Bücher