Das Experiment
In dem Moment fiel ihr der Junge ein. Sie war davon ausgegangen, dass Emily ihn im Wagen mitgenommen hatte, weil sie ohne ihn so gut wie nie das Haus verließ. Sie ging weiter durch den Flur, darauf gefasst, dass Joe jeden Augenblick auftauchen konnte, um sie zur Rede zu stellen, was sie in seinem Haus suchte. Doch je weiter sie ging, desto sicherer war sie, dass er nicht da war.
Als sie das Kinderzimmer betrat, stockte ihr einen Moment lang der Atem. Der Junge saß auf seinem Bett, in einer Hand die Keksschachtel, in der anderen seine Flasche Milch.
„Keks?“ fragte er, als er Helen sah.
„Oh, mein Gott“, murmelte sie und hob ihn hoch. Sie war sicher, dass es nicht so sein konnte, wie es auf den ersten Blick aussah. Emily Jackson war nicht die Frau, die aus dem Haus ging und ihr Kind unbeaufsichtigt zurückließ.
Mit dem Jungen auf dem Arm eilte sie von Zimmer zu Zimmer, bis sie die Küche erreichte und erkannte, dass etwas nicht stimmen konnte. Essen stand herum, der Hörer lag neben dem Telefon, die Kühlschranktür war weit offen. Sie wollte ein wenig Ordnung schaffen, als eine innere Stimme ihr riet, nichts zu verändern. Stattdessen packte sie ein paar Windeln und nahm den Jungen mit.
Als Helen in ihr Haus zurückgekehrt war und Joe an seinem Arbeitsplatz anrufen wollte, befand sich Emily Jackson bereits auf einem Kollisionskurs mit ihrem Schicksal.
Emily fuhr quer durch Seattle, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Sie fuhr bei Rot über Kreuzungen und interessierte sich weder für andere Autofahrer noch für Fußgänger. Als sie die Narrows Bridge erreicht hatte, wurde sie von einer Kolonne aus Streifenwagen verfolgt, die es mit der von O. J. Simpsons Flucht hätte aufnehmen können. Die Polizei wusste es noch nicht, aber Emily hatte ihr Ziel erreicht. Am anderen Ende der Brücke erwartete sie ein Kordon aus Polizeiwagen, außerdem waren Straßensperren aufgebaut worden.
Doch die andere Seite der Brücke war für Emily ohne Bedeutung. Auf halber Strecke hielt sie plötzlich ihren Wagen an, stellte den Motor ab und stieg aus. Bevor der erste Streifenwagen hinter ihr zum Stehen gekommen war, hatte sie bereits das Geländer der Brücke erreicht. Als die Polizisten losrannten und hinter ihr herriefen, kletterte sie über das Geländer.
Die Beamten schrien ihr zu, sie solle nicht springen, sie machten ihr Versprechungen, die sie niemals hätten halten können, doch Emily hörte nur ein lautes Tosen. Sie breitete die Arme aus, als wäre sie ein Vogel, der sich zum Abflug bereitmachte, hob den Kopf zum Himmel und sprang.
Sie wirbelte um ihre eigene Achse, nur der Wind rauschte in ihren Ohren, als sie ausführte, was man ihr aufgetragen hatte.
Drei Tage lang war Seattle von diesem Zwischenfall erschüttert, bis diese Nachricht von einer anderen, gleichermaßen tragischen Geschichte abgelöst wurde. Emily hinterließ ihren Mann, der um sie trauerte und sich den Kopf über die Gründe für ihren Selbstmord zerbrach, und einen kleinen Jungen, der nach seiner Mutter rief, die niemals zurückkommen würde.
Eine Woche später, Amarillo, Texas
Josephine Henley, von den Gästen in Haley’s Bar nur kurz Jo-Jo genannt, servierte gerade einige Drinks, als Barkeeper Raleigh ihr quer durch das Lokal zurief: „Hey, Jo-Jo, ein Anruf für dich.“
Sie winkte ihm zu, um anzudeuten, dass sie ihn gehört hatte, dann kassierte sie das Trinkgeld ein, das ein paar betrunkene Trucker ihr gegeben hatten, die sie um einen Kuss anbettelten.
„Komm schon, Jo-Jo, nur einen für unterwegs“, sagte Henry.
„Kommt gar nicht in Frage“, erwiderte sie. „Du bist verheiratet.“
„Ja, aber ich bin auch einsam.“
„Du bist nicht einsam, du bist nur scharf, und ich werde dir den Gefallen nicht tun.“
„Dann gib mir meine fünf Dollar zurück“, sagte er im Scherz.
„Oh nein, die habe ich mir verdient. Außerdem musstest du schon einiges mehr als nur fünf Dollar hinblättern, um mich rumzukriegen.“
„Wie viel denn?“ fragte er. Sein Interesse war sofort wieder geweckt.
„So viel Geld kannst du niemals zusammenbekommen, Mister. Und jetzt gib auf. Da wartet ein Anruf auf mich.“
Sie befreite sich aus seinem Griff und ging zum Telefon.
„Einen Bourbon mit Soda“, gab sie eine neue Bestellung weiter, bevor sie den Hörer nahm.
„Hallo! Hallo?“
Es war zu laut, als dass sie etwas hätte hören können. Sie legte die Hand über die Sprechmuschel und wandte sich den Gästen zu.
„Geht das ein bisschen
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