Das Experiment
PROLOG
I m Norden des Staates New York, 1979
Edward Fontaine stand an der Tür und beaufsichtigte die Kinder auf dem Spielplatz, während er auf das Wetter achtete. Als Leiter der Montgomery Academy, einer kleinen Privatschule, war es seine Pflicht, sich um alle Aspekte der täglichen Routineabläufe zu kümmern. Und dazu gehörte selbstverständlich auch das Wohlergehen der Kinder.
Zwar leisteten seine Lehrer ebenfalls ihren Teil, doch von seiner Position auf der obersten Stufe der Treppe hatte er den besten Überblick über den Platz. Er spürte, dass ein Wind aufkam, und sah zum Himmel. Die leichte Bewölkung hatte sich mittlerweile zu einer dunklen Unwetterfront zusammengebraut. Auch wenn die Pause noch nicht vorüber war, wollte er nicht das Risiko eingehen, dass eines der Kinder von einem Blitz getroffen werden konnte. Er eilte in sein Büro und betätigte die Schulglocke, die über den Spielplatz schrillte. Er war noch immer im Gebäude, da konnte er schon die empörten Rufe der Kinder hören.
Als er wieder die Treppe erreicht hatte, ließ der erste Donnerschlag die Fensterscheiben der Schule erzittern. Die Lehrer begannen, die Kinder zurück ins Haus zu schicken.
„Schnell, schnell!“ rief Edward den jüngsten Kindern zu, die am weitesten entfernt waren. „Es kommt ein Unwetter! Ihr müsst ins Haus laufen!“
Virginia Shapiro und ihre beste Freundin Georgia hatten gerade die Rutsche erklommen, als die Klingel zum ersten Mal ertönte. Gerade mal sechs Jahre alt standen sie jetzt vor dem Dilemma, entweder die Leiter wieder hinunterzuklettern oder aber die Rutsche zu benutzen, was den Eindruck hätte erwecken können, als wollten sie weiterspielen, obwohl sie ins Gebäude kommen sollten. Als ein zweites Donnern förmlich den Himmel über ihnen zerriss, begann Virginia zu weinen. Georgia fasste ihre Hand, wusste aber nicht so recht, was sie machen sollte.
Edward erkannte die Situation und rannte zu den beiden, als er die ersten Regentropfen auf seinem Gesicht spürte.
„Kommt, Kinder, kommt“, drängte er sie, als er die Rutsche erreicht hatte. „Das ist schon in Ordnung. Rutscht runter, und dann gehen wir gemeinsam ins Haus.“
Georgia zog an Virginias Hand und lächelte aufmunternd.
„Komm, Ginny, wir machen das zusammen. So wie immer.“
Ginny schniefte, dann nickte sie, und Momente später waren sie bereits in Mr. Fontaines Armen gelandet.
„So ist’s gut, Mädchen“, sagte er und nahm sie an der Hand. „Jetzt müssen wir aber rennen. Wetten, dass ihr schneller seid als ich?“
Die Mädchen kreischten und rissen sich los, dann stürmten sie auf das Schulgebäude zu, während Edward ihnen erleichtert folgte, obwohl ihm klar war, dass er es nicht trockenen Fußes bis dorthin schaffen würde.
Als er das Gebäude betrat, waren sie schon nicht mehr zu sehen. Erst nachdem sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, entdeckte er sie am Ende des Flurs, wo sie gerade ins letzte Zimmer auf der linken Seite verschwanden.
Fast hätte er es vergessen. Heute war Donnerstag. Die Klasse der Begabten und Talentierten kam jeden Donnerstag zusammen. Nicht zum ersten Mal verspürte er dieses Gefühl des Unbehagens, während er zusah, wie die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Es war keineswegs so, als würde er zulassen, dass ihnen etwas angetan wurde. Ganz im Gegenteil. Diese sieben Mädchen hatten etwas gemeinsam, was ihnen die Teilnahme an diesem Unterricht überhaupt erst gestattete. Das Geld, das ihm „gestiftet“ wurde, weil er diesen Unterricht weiter laufen ließ, war zudem etwas, worauf er nur ungern verzichtet hätte. Es bereitete ihm oft Sorgen, dass die Eltern nicht wussten, was dort wirklich ablief, aber er wusste, dass den Kindern kein Leid zugefügt wurde. Außerdem wäre es jetzt ohnehin zu spät gewesen, noch einen Rückzieher zu machen.
Er wandte sich akuteren Dingen zu und begab sich in sein Büro, wo immer Arbeit auf ihn wartete.
Im letzten Zimmer links saßen sieben kleine Mädchen ruhig auf ihren Plätzen und warteten darauf, dass ihr Lehrer mit dem Unterricht begann. Sie nahmen weder den Regen wahr, der gegen die Fenster prasselte, noch die Blitze, die den Raum in gleißendes Licht tauchten. Ihre Augen waren auf den Lehrer gerichtet, ihr Verstand nahm nur den Klang seiner Stimme wahr.
In der nächsten Nacht tobte das Unwetter noch immer. Windgepeitschte Bäume bogen sich im Sturm, ihre Äste drohten, der auf sie einstürmenden Gewalt nichts entgegensetzen zu
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