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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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ein grauseidenes Kleid getragen, es war ein Panzer. Ihren dürren und welken Leib umschloß es bis zum Halse, als hätte sie Pfeile und Lanzen zu befürchten. Ein Lorgnon trug sie vor den Augen; wenn sie es ablegte, glich sie einem Ritter, der ein Visier fallen läßt. Auch seine Frau ließ ein unsichtbares Lorgnon, ein unsichtbares Visier fallen. Sie erhob sich, nachdem sie gewissenhaft alle Briefe gelesen hatte und sagte: »Du hast doch keine Angst? Oder hast du etwa Angst?«
    So wenig bekümmern sie also die Gefahren, die mich bedrohen, dachte da der Eichmeister. Und er erwiderte: »So wenig bekümmern dich also die Gefahren, die mir drohen? Wozu hast du mich gezwungen, die Kaserne zu verlassen? Wozu? Warum?«
    Sie antwortete nicht. Sie ging in die Küche und kehrte mit zwei Schüsseln dampfender Suppe zurück. In schweigsamem Groll, aber nicht ohne Appetit, aß der Eichmeister Eibenschütz sein gewohntes Mittagessen. Aus Nudelsuppe bestand es, aus Spitzfleisch und aus Zwetschgenknödeln.
    Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Haus und ging ins Amt. Er vergaß allerdings nicht, die Drohbriefe wieder mitzunehmen.

VII
    In dem Dorf Szwaby, das zum Bezirk Zlotogrod gehörte, war Leibusch Jadlowker mächtiger als der Wachtmeister der Gendarmerie selbst. Man muß wissen, wer Leibusch Jadlowker war: von unbekannter Herkunft. Man munkelte, daß er vor Jahren aus Odessa gekommen und daß sein Name eigentlich nicht der richtige sei. Er besaß die sogenannte Grenzschenke, und man wußte nicht einmal, auf welche Weise er in ihren Besitz gekommen war. Auf eine geheimnisvolle, niemals erforschte Weise war der frühere Besitzer, ein alter, silberbärtiger Jude, umgekommen. Man hatte ihn eines Tages erfroren aufgefunden, im Grenzwald, halb schon von Wölfen zerfressen. Kein Mensch, auch der Diener Onufrij nicht, hätte sagen können, warum und wozu der alte Jude mitten im Frost durch den Grenzwald gegangen war. Die Tatsache allein bestand, daß er, der keine Kinder hatte, einen einzigen Erben besaß, nämlich seinen Neffen Leibusch Jadlowker. Von Jadlowker ging das Gerücht, er sei aus Odessa geflüchtet, weil er einen Mann mit einem Zuckerhut erschlagen hatte. Im übrigen war es kaum ein Gerücht, es war beinahe eine Wahrheit. Leibusch Jadlowker erzählte selbst die Geschichte jedem, der es hören wollte. Er war – so erzählte er – Hafenarbeiter gewesen, und er hatte einen Feind unter seinen Kameraden. Und ihn, der ein bärenstarker Kerl gewesen sein sollte, erschlug eines Abends, während sie gemeinsam Zuckerhüte von einem Warenschiff abluden, Jadlowker mit einem jener Zukkerhüte, infolge eines Streits. Deswegen auch wäre er über die Grenze Rußlands geflüchtet.
    Man glaubte ihm alles: daß er ein Hafenarbeiter gewesen war und daß er gemordet hatte. Man glaubte ihm nur eines nicht, nämlich seinen Namen: Leibusch Jadlowker – und man nannte ihn deshalb im ganzen Bezirk Zlotogrod einfach »Leibusch, den Wilden«.
    Es gab Grund genug, ihn so zu nennen. Denn seine Grenzschenke war der Sammelplatz aller Taugenichtse und Verbrecher. Dreimal in der Woche lud selbst der berüchtigte russische Agent für die American Line die Deserteure der russischen Armee in der Grenzschenke Jadlowkers ab, damit sie von da aus weiter nach Holland, nach Kanada, nach Südamerika kämen.
    Wie gesagt: Taugenichtse und Verbrecher verkehrten in der Grenzschenke Jadlowkers; Landstreicher, Bettler, Diebe und Räuber beherbergte er. Und dermaßen schlau war er, daß ihm das Gesetz nicht beikommen konnte. Immer waren seine Papiere und die seiner Gäste in Ordnung. Nichts Nachteiliges, nicht Unsittliches konnten über seinen Lebenswandel die beruflichen Spitzel berichten, die an der Grenze herumwimmelten wie Mücken. Es ging von Leibusch Jadlowker das Gerücht herum, daß er der Urheber aller Verbrechen im ganzen Bezirk Zlotogrod sei – und es waren nicht wenig Verbrechen: Morde kamen vor, Raubmorde und auch Brandlegungen – von Diebstählen nicht zu reden. Österreichische Deserteure, die nach Rußland, russische, die nach Österreich flüchteten, tauschte er gewissermaßen aus. Jene, die ihn nicht bezahlten, ließ er – so hieß es – wahrscheinlich erschießen, von den österreichischen oder von den russischen Grenzposten: je nachdem! Jadlowker hatte nicht nur auf eine rätselhafte Weise seine Konzession für die Grenzschenke bekommen, sondern auch eine für einen Spezereiwarenladen. Und unter »Spezerei« schien er etwas ganz Besonderes zu

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