Das fehlende Glied in der Kette
letzten Sekunde über meine wahren Absichten völlig im Dunkeln – was teilweise zu meinem Erfolg beitrug.»
«Wollen Sie damit sagen, dass Sie John die Gerichtsverhandlung hätten ersparen können?»
«Ja, mein Freund. Aber ich entschied mich dann für ‹das Glück einer Frau›. Nur eine gemeinsam durchlittene Gefahr konnte diese beiden stolzen Menschen wieder zusammenbringen.»
Ich sah Poirot erstaunt an – mir fehlten die Worte! Diese kolossale Dreistigkeit des kleinen Mannes! Wer außer Poirot hätte an einen Mordprozess als Ehetherapie gedacht!
«Ich errate Ihre Gedanken, mon ami.» Poirot lächelte mich an. «Keiner außer Hercule Poirot hätte so etwas gewagt! Sie sollten mich deshalb aber nicht verurteilen! Das Glück eines Paares ist das Wichtigste auf der ganzen Welt.»
Seine Worte riefen mir die Erinnerung an einen noch nicht so lange zurückliegenden Tag wach. Ich dachte an Mary, wie sie blass und erschöpft auf dem Sofa lag und lauschte und lauschte. Sie hörte es unten klingeln und erhob sich. Poirot hatte die Tür geöffnet und beim Anblick ihres verzweifelten Gesichtsausdrucks leicht genickt. «Ja, Madame», hatte er gesagt, «ich habe ihn Ihnen zurückgebracht.» Er war beiseite getreten, und als ich hinausging, hatte ich den Ausdruck in Marys Augen gesehen, als John Cavendish seine Frau in die Arme nahm.
«Vielleicht haben Sie Recht, Poirot», sagte ich leise. «Ja, es ist das Wichtigste von der Welt.»
Plötzlich klopfte jemand an die Tür und Cynthia steckte den Kopf herein.
«Ich – ich wollte nur…»
«Kommen Sie herein», sagte ich und stand auf.
Sie kam herein, aber sie setzte sich nicht.
«Ich – ich wollte Ihnen nur etwas sagen…»
«Ja?»
Cynthia fingerte an einer kleinen Troddel herum und auf einmal brach es aus ihr heraus: «Ihr zwei Schätze!», und dann küsste sie zuerst mich und dann Poirot und rannte wieder aus dem Zimmer.
«Was in aller Welt soll denn das nun heißen?», fragte ich überrascht.
Ein Kuss von Cynthia war zwar sehr nett, aber so in aller Öffentlichkeit verlor diese Geste etwas von ihrem Charme.
«Das bedeutet, sie weiß jetzt, dass Monsieur Lawrence sie nicht so verabscheut, wie sie dachte», erwiderte Poirot gleichmütig.
«Aber…»
«Hier ist er.»
Da kam Lawrence auch schon herein.
«Oh, Monsieur Lawrence!», rief Poirot. «Wir können Ihnen gratulieren, nicht wahr?»
Lawrence lief rot an und lächelte dann verlegen. Ein verliebter Mann ist ein jämmerlicher Anblick. Cynthia hatte wenigstens hübsch ausgesehen.
Ich seufzte.
«Was ist denn, mon ami?»
«Nichts», sagte ich bekümmert. «Es sind wirklich zwei wunderbare Frauen…!»
«Aber keine ist für Sie?», beendete Poirot den Satz. «Machen Sie sich nichts daraus. Wir können ja vielleicht wieder zusammen einen Fall lösen – wer weiß? Und dann…»
Über dieses Buch
The Mysterious Affair at Styles ist das erste veröffentlichte Buch von Agatha Christie und zugleich die Premiere für Hercule Poirot. Der Roman war bereits 1916 geschrieben worden, fand aber erst 1921 einen Verlag, The Bodley Head in London. Das Buch erschien 1959 unter dem Titel «Das fehlende Glied in der Kette» in deutscher Ausgabe beim Scherz Verlag.
Agatha Christie arbeitete 1916 als Krankenpflegerin in einem Krankenhaus in Devon – aus der Apotheke war eine größere Dosis Arsen verschwunden. In der Erinnerung an jenen Vorfall sagt sie später: «…damals dachte ich das erste Mal ernstlich daran, einen Kriminalroman zu schreiben.» Nachdem sie sich über die Personen und die Handlung ihres ersten Romans klar geworden war, tauchte die Frage nach dem Detektiv auf. «Wie wäre es», erinnert sie sich, «wie wäre es mit einem pensionierten Kriminalbeamten? Nur nicht zu jung! Welch großen Fehler habe ich damals begangen! Die Folge ist, dass mein erfundener Detektiv heute schon weit über hundert Jahre alt sein muss.»
Unter Sammlern hat man auf Auktionen für ein gut erhaltenes Exemplar der englischen Erstausgabe schon ohne weiteres 15.000 Euro bezahlt.
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