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Das Feuer von Innen

Das Feuer von Innen

Titel: Das Feuer von Innen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Es sei ebenso falsch, sagte er, das Sehen als Hören zu bezeichnen, denn es ginge um unendlich mehr als dies. Aber die Seher hätten sich nun einmal dafür entschieden, den Klang als Zeichen der Neu-Ausrichtung anzunehmen. Die Stimme des Sehens bezeichnete Don Juan als etwas höchst Geheimnisvolles und Unerklärliches.
    »Meine persönliche Meinung ist, daß die Stimme des Sehens nur dem Menschen zukommt«, sagte er. »Dies geschieht vielleicht, weil Sprechen etwas ist, das nur der Mensch tut. Die alten Seher glaubten, es sei die Stimme einer übermächtigen, eng mit der Menschheit verbundenen Wesenheit, eines Beschützers der Menschen. Die neuen Seher entdeckten, daß diese Wesenheit, die sie die Form des Menschen nannten, gar keine Stimme hat. Die Stimme des Sehens ist etwas völlig Unbegreifliches für die neuen Seher; sie sagen, es sei die Glut des Bewußtseins, die auf den Emanationen des Adlers spielt wie ein Harfner auf seiner Harfe.«
    Er war nicht bereit, dies weiter auszuführen, und meinte, es werde mir später, wenn er seine Erklärung fortsetzte, alles klar werden.
    Solange Don Juan sprach, war ich so vollkommen konzentriert gewesen, daß ich mich tatsächlich nicht entsinnen konnte, mich zum Essen an den Tisch gesetzt zu haben. Als Don Juan nun innehielt, bemerkte ich, daß sein Teller Eintopf beinah leergegessen war.
    Genaro sah mich mit strahlendem Lächeln an. Vor mir auf dem Tisch stand ein Teller, und er war ebenfalls leer. Da war nur noch ein winziges Restchen Eintopf übrig, als hätte ich eben erst meine Mahlzeit beendet. Ich erinnerte mich gar nicht daran, gegessen zu haben, aber ich erinnerte mich auch nicht, daß ich an den Tisch gegangen wäre oder mich hingesetzt hätte. »Wie hat der Eintopf geschmeckt?« fragte mich Genaro und schaute weg.
    »Gut«, sagte ich, denn ich wollte nicht eingestehen, daß es mir schwer fiel, mich zu erinnern.
    »Für meinen Geschmack war zuviel Chili drin«, sagte Genaro. »Und du ißt doch keine scharf gewürzten Sachen. Darum hab ich mir Sorgen gemacht, ob es dir auch bekommen würde. Du hättest nicht zweimal nachlangen sollen. Mir scheint, du bist ziemlich verfressen, wenn du in gesteigerter Bewußtheit bist, nicht wahr?«
    Ich gestand zu, daß er vielleicht recht hatte. Er reichte mir einen großen Wasserkrug, mit dem ich meinen Durst löschen und meinen brennenden Gaumen lindern sollte. Als ich ihn bis zur Neige austrank, brachen die beiden in schallendes Gelächter aus. Auf einmal erkannte ich, was hier vorging. Es war wie eine körperliche Erkenntnis. Es war ein gelblicher Lichtblitz, der mich traf, als sei ein Zündholz zwischen meinen Augen angerissen worden. Jetzt wußte ich, daß Genaro Spaß machte. Ich hatte überhaupt nicht gegessen. Ich war so vertieft in Don Juans Erklärung gewesen, daß ich alles andere vergessen hatte. Der Teller, der vor mir stand, war Genaros Teller.
    Nach dem Essen fuhr Don Juan fort, mir die Glut der Bewußtheit zu erklären. Genaro saß neben mir und lauschte, als hätte er die Erklärung noch nie gehört.
    Die Emanationen außerhalb des Kokon, so sagte Don Juan, die auch als allgemeine Emanationen bezeichnet würden, übten einen Druck auf die Emanationen im Innern des Kokon aus, und dieser Druck sei bei allen Lebewesen gleich stark. Doch die Folgen seien bei ihnen allen ganz verschieden, weil ihr Kokon auf jede erdenkliche Weise auf diesen Druck reagieren könne. Und dennoch gebe es, innerhalb gewisser Grenzen, Gradabstufungen der Uniformität.
    »Wenn der Seher also sieht«, fuhr er fort, »daß der Druck der allgemeinen Emanationen auf die stets in Bewegung befindlichen Emanationen im Innern einwirkt und deren Bewegung zum Stillstand bringt, dann weiß er, daß das leuchtende Wesen in diesem Moment durch Bewußtheit fixiert ist.
    Wenn man nun sagt, daß die allgemeinen Emanationen auf jene im Innern des Kokon einwirken und ihre Bewegung zum Stillstand bringen, so heißt dies, daß die Seher etwas Unbeschreibliches sehen, dessen Bedeutung sie aber ohne Zweifel kennen. Es bedeutet, daß die Stimme des Sehens ihnen gesagt hat, daß die Emanationen im Innern des Kokon völlig in Ruhe sind und mit jenen außerhalb übereinstimmen.«
    Die Seher, so sagte er, behaupteten natürlich, daß das Bewußtsein immer von außerhalb komme und daß das wahre Geheimnis gar nicht in uns liege. Da die Emanationen insgesamt von Natur aus dazu bestimmt seien, zu fixieren, was sich im Innern des Kokon befindet, bestehe der Trick der

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