Das Feuer von Innen
Genaro.
»Um alles in der Welt«, sagte Genaro ernst. Er sah mich an und fügte leise, als wolle er es mich nicht hören lassen, hinzu: »Muß er denn nicht ... vielleicht ist es zuviel... «
Augenblicklich steigerten sich meine Furcht und mein Argwohn ins Unerträgliche. Ich schwitzte und keuchte. Don Juan trat zu mir und versicherte, mit mühsam beherrschtem Schmunzeln, daß Don Genaro sich nur auf meine Kosten lustig mache und daß wir nur einen Platz aufsuchen wollten, wo vor Jahrtausenden die einstigen Seher lebten.
Während Don Juan auf mich einredete, warf ich zufällig einen Blick in Genaros Richtung. Er schüttelte langsam den Kopf. Es war eine fast unmerkliche Geste, als wolle er mich wissen lassen, daß Don Juan nicht die Wahrheit sprach. Ich geriet in einen Zustand hektischer Nervosität - beinah Hysterie - und beruhigte mich erst, als Genaro lachend herausplatzte.
Ich konnte nur staunen, wie leicht meine Stimmungen mich in Unvorstellbare Höhen oder in bodenlose Tiefen führen konnten.
Don Juan, Genaro und ich verließen frühmorgens Genaros Haus und wanderten ein Stück weit in die zerklüfteten Hügel der Umgebung. Irgendwann machten wir halt und setzten uns auf eine riesige flache Felsplatte, inmitten eines sanft abschüssigen Maisfeldes gelegen, das offensichtlich vor kurzem abgeerntet worden war.
»Dies ist der Original-Schauplatz«, sagte Don Juan zu mir. »Hierher werden wir, im Verlauf meiner Erklärung, noch einige Male zurückehren.«
»Hier passieren unheimliche Dinge in der Nacht«, sagte Genaro. »Der Nagual Julian fing hier sogar einen Verbündeten. Oder vielmehr, der Verbündete ... «
Don Juan gab ein unübersehbares Zeichen mit den Augenbrauen, und Genaro verstummte mitten im Satz. Er lächelte mir zu. »Es ist zu früh für Gruselgeschichten«, sagte Genaro. »Warten wir, bis es dunkel ist.«
Er stand auf und begann, mit durchgebogenem Rückgrat, über die Felsplatte hin und her zu schleichen.
»Was sagte er eben über deinen Wohltäter, der hier einen Verbündeten fing?« fragte ich Don Juan. Er antwortete nicht sofort. Fasziniert beobachtete er Genaros Kunststücke. »Er spielte auf ein schwieriges Manöver der Bewußtheit an«, erwiderte er schließlich, noch immer Genaro anstarrend. Genaro vollendete eine Kreisbahn rund um die Felsplatte und kam zurück, um sich neben mich zu setzen. Er keuchte heftig, pfeifend, beinah atemlos.
Don Juan schien wie gebannt durch das, was Genaro getan hatte. Und wieder hatte ich das Gefühl, daß die beiden sich auf meine Kosten amüsierten, daß sie beide etwas im Schilde führten, wovon ich nichts ahnte.
Plötzlich begann Don Juan mit seiner Erklärung. Seine Stimme beschwichtigte mich. Nach großen Mühen, so sagte er, wären die Seher zu dem Schluß gelangt, daß das Bewußtsein erwachsener Menschen, durch das Wachstum gereift, nicht mehr als Bewußtsein bezeichnet werden könne, weil daraus etwas Stärkeres und Komplexeres entstanden sei, das die Seher als Aufmerksamkeit bezeichneten.
»Wieso wissen sie, daß das menschliche Bewußtsein entwickelt wird und daß es wächst?« fragte ich.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung des Menschen, so sagte er, beginne ein Streifen der Emanationen im Innern des Kokon zu leuchten. Je mehr Erfahrung der Mensch ansammle, desto stärker das Leuchten. Manchmal steigere sich die Glut auf diesem Band der Emanationen so gewaltig, daß sie auf die Emanationen außerhalb des Kokon überspringe. Die Seher, die diese Steigerung beobachteten, hätten den Schluß gezogen, daß Bewußtheit der Rohstoff und Aufmerksamkeit das Endprodukt dieses Vorgangs sei.
»Und wie beschreiben die Seher Aufmerksamkeit?« »Aufmerksamkeit, sagen die Seher, ist die Nutzung und Mehrung des Bewußtseins durch den Vorgang des Lebendigseins«, antwortete er.
Bei solchen Definitionen, meinte er, bestünde stets die Gefahr, die Dinge übermäßig zu vereinfachen, um sie verständlich zu machen. Wollte man zum Beispiel Aufmerksamkeit definieren, so liefe man Gefahr, ein magisches, wunderbares Geschehen als etwas Alltägliches darzustellen. Aufmerksamkeit sei aber die höchste Vollendung des Menschen. Sie entwickele sich aus dem Rohstoff der kreatürlichen Bewußtheit, bis sie schließlich die ganze Skala menschlicher Alternativen einbegreife. Die Seher aber hätten sie noch weiter entwickelt, bis sie schließlich die ganze Skala der menschlichen Möglichkeiten umfaßte. Ich wollte wissen, ob die Seher diesen
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