Das fliegende Klassenzimmer.
versprochen, dass er nicht weinen wird. Und so ‘n Junge wie er hält, was er verspricht.« Herr Thaler war seiner Sache allerdings gar nicht so sicher, wie er vorgab. Aber was sollte er denn sonst sagen?
»Versprochen! Versprochen!«, meinte Martins Mutter. »Ich hab’s ihm ja auch versprochen. Und trotzdem hab ich schon geheult, während ich den Brief an ihn schrieb.«
Herr Thaler kehrte dem Fenster den Rücken. Ihm gingen die schimmernden Christbäume auf die Nerven. Er blickte ins dunkle Zimmer und sagte: »Komm, mach Licht!«
Seine Frau erhob sich und zündete die Lampe an. Ihre Augen sahen rot geweint aus.
Auf dem runden Tisch stand eine ganz, ganz kleine Fichte.
Frau Riedel, eine Witwe, die zu Weihnachten auf dem Obermarkt Christbäume verkaufte, hatte sie ihnen geschenkt.
»Für Ihren Martin«, hatte sie gesagt. Nun hatten Thalers also einen Weihnachtsbaum - und der Junge war nicht zu Hause!
Herr Thaler ging in die Küche, kramte dort lange herum und kam endlich mit einem kleinen Kasten wieder. »Hier sind die Kerzen vom vorigen Jahr«, meinte er. »Wir haben sie nur halb abbrennen lassen.« Dann klemmte er zwölf halbe Christbaumkerzen in die Zweige der Fichte. Schließlich sah das Bäumchen richtig hübsch aus. Aber Martins Eltern wurden nur noch trauriger.
Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. Und Frau Thaler las zum fünften Male Martins Brief vor. An einigen Stellen machte sie eine Pause und fuhr sich über die Augen. Als sie mit dem Lesen fertig war, zog der Mann sein Taschentuch heraus und schnauzte sich heftig die Nase. »Dass so etwas vom Schicksal überhaupt erlaubt wird«, sagte er. »Da muss so ein kleiner Kerl schon erfahren, wie schlimm es ist, wenn man kein Geld hat.
Hoffentlich macht er seinen Eltern nicht noch Vorwürfe, dass sie so untüchtig waren und so arm geblieben sind!«
»Rede doch nicht so dummes Zeug!«, meinte die Frau. »Wie du überhaupt auf so einen Gedanken kommen kannst! Martin ist zwar noch ein Kind. Aber er weiß ganz genau, dass Tüchtigkeit und Reichtum nicht dasselbe sind.«
Dann holte sie das Bild mit der blauen Kutsche und den sechs Pferden vom Nähtischchen und stellte es vorsichtig unter den kleinen Christbaum.
»Ich verstehe ja nichts von Kunst«, sagte der Vater, »aber das Bild gefällt mir großartig. Vielleicht wird er später einmal ein berühmter Maler! Dann könnten wir ja wirklich mit ihm nach Italien reisen. Oder soll das etwa Spanien sein?«
»Hauptsache, dass er gesund bleibt«, erklärte die Mutter.
»Guck dir bloß den Schnurrbart an, den er sich unter die Nase gemalt hat!«
Die Eltern lächelten wehmütig.
Die Mutter sagte: »Ich finde es so hübsch, dass er uns nicht in irgendein pompöses Auto hineingemalt hat, sondern in eine blaue Kutsche mit sechs Pferden. Das ist viel poetischer.«
»Und diese Apfelsinen!«, meinte der Vater. »So große Dinger gibt’s ja gar nicht. Da wiegt doch jedes Stück mindestens vier Pfund!«
»Und wie geschickt er die Peitsche schwingt«, meinte die Mutter. Dann schwiegen sie wieder, blickten unverwandt das Bild an, das »In zehn Jahren« hieß, und dachten an den kleinen Maler.
Der Vater hustete. »In zehn Jahren! Bis dahin kann viel geschehen.« Er holte Streichhölzer aus der Tasche, zündete die zwölf Kerzen an und löschte die Lampe aus. Thalers gute Stube schimmerte weihnachtlich.
»Du gute, treue Seele!«, sagte der Mann zu der Frau.
»Schenken können wir uns diesmal nichts. Umso mehr wollen wir uns wünschen.« Er gab ihr einen Kuss auf die Backe.
»Fröhliche Weihnachten!«
»Fröhliche Weihnachten!«, sagte auch sie. Dann weinte sie.
Und das klang, als könne sie nie wieder zu weinen aufhören.
Wer weiß, wie lange sie so auf dem alten Plüschsofa saßen …
Die Stearinkerzen wurden kleiner und kleiner. In der Nachbarwohnung sang man »Stille Nacht, heilige Nacht«. Und noch immer wirbelten die Schneeflocken vorm Fenster.
Plötzlich klingelte es!
Die beiden rührten sich nicht. Sie wollten in ihrem Kummer nicht gestört sein.
Doch da klingelte es noch einmal. Laut und ungeduldig.
Frau Thaler stand auf und ging langsam in den Korridor. Nicht einmal am Heiligen Abend wurde man in Ruhe gelassen!
Sie öffnete die Wohnungstür und blieb sekundenlang erstarrt stehen. Dann schrie sie: »Martin!« Gellend hallte es im Treppenhaus wider.
Martin? Wieso? Der Vater war erschrocken zusammengefahren. Er rannte in den Flur hinaus und traute seinen Augen nicht!
Seine Frau war auf der
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