Bei Tag und Nacht
1
CORNWALL, ENGLAND OKTOBER 1808
»Es ist notwendig, Mama. Ich muß es für Karl tun - und für Peter.« Die schlanke, blonde Elissa Tauber ging vordem gemauerten Kamin des bescheidenen Landhauses der Familie auf und ab. Es lag am Rand des kleinen Bauerndorfes Tenabrook in der Nähe von St. Just.
Auf der anderen Seite des warmen, schlicht möblierten Salons saß in einem hochlehnigen Schaukelstuhl ihre Mutter in der Nähe des Feuers. Ihr einst hell schimmerndes Haar wurde an den Schläfen schon grau, und ihr schmales Gesicht war von Sorgen gezeichnet. Die langen, dünnen Finger verkrallte sie geradezu in das Nachthemd, das sie zum einundzwanzigsten Geburtstag ihrer Tochter mit rosa Röschen bestickte.
»Elissa, wir haben das doch schon einmal besprochen. Du kannst unmöglich aufs Festland fahren - es ist einfach zu gefährlich. Ich habe schon ein Kind verloren und ertrage nicht noch einen Verlust.« In ihrer Jugend hatte Octavia Tauber, die Gräfin von Langen, genauso ausgesehen wie ihre goldhaarige, blauäugige Tochter. Sie war auf der Londoner Bühne eine bekannte Schauspielerin gewesen, eine Schönheit, deren sinnlicher Ausstrahlung Dutzende von Männern zu Füßen lagen.
Auch der gutaussehende Graf von Langen gehörte dazu, und Octavia hatte sich sozusagen auf den ersten Blick in ihn verliebt. Die Gräfin schmerzte es, auch nur daran zu denken, wie schön und hochgewachsen und blond er gewesen war. Vor zwei Jahren jedoch erlag ihr geliebter Maximilian den Folgen eines Reitunfalls - nun ohne Gatten welkte sie dahin und begann zu altern. Der leuchtende Funke des Lebens in ihrem Innern war verglimmt - erloschen zusammen mit ihrer feurigen, leidenschaftlichen Art, in der sie ihrer Tochter sosehr geähnelt hatte.
»Ich bin doch vorsichtig, Mama. Natürlich gehe ich kein unnötiges Wagnis ein. Es ist noch das Geld da, das Vater für meine Ausbildung zur Seite gelegt hatte - das kann ich nehmen. Und sobald ich irgendeinen Beweis in der Hand habe gegen Karls Mörder, werde ich mich sofort an die Behörden wenden.«
Octavia drehte ihre Stickerei hin und her. »Vielleicht sollten wir das lieber sofort tun.«
Elissa blieb stehen und wandte sich zu ihrer Mutter um. »Du weißt genau, daß wir das nicht tun können - mit diesem einen einzigen Brief. Einen Mann der Spionage gegen sein Land zu bezichtigen ist keine Kleinigkeit. Wir brauchen mehr Beweise, müssen herausfinden, wer der Mann wirklich ist.«
Die Gräfin schüttelte den Kopf. »Aber du sollst nichts riskieren. Ich will es einfach nicht.«
Elissa schritt hinüber zu ihrer Mutter, die wie ein Häufchen Elend über ihrer Stickerei hockte und jetzt hin und her schaukelte, während ihre Hände im Schoß unruhig zitterten.
Sie kniete sich neben Octavia nieder. »Du würdest es doch selbst tun, Mama, wenn du könntest - das weißt du ganz genau. Wenn deine Gesundheit robuster wäre, würdest du es anpacken. Du würdest den Mann, der Karl getötet hat, nicht einfach davonkommen lassen - sondern ihn finden und ihn für seine Untat bezahlen lassen. Nun gehe halt ich an deiner Stelle!«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Du bist zu jung, Elissa, und zu unerfahren. Wie solltest du dich im Leben einer Erwachsenen auskennen, schon gar im Zusammenhang mit Männern! Du kannst unmöglich ...«
»Doch, ich kann, Mama. Denk an die vielen Stunden, die wir mit dem Einstudieren der Rollen verbracht haben. Du hast mich
gelehrt, mich zu verstellen, so zu tun, als wäre ich eine große, schöne Schauspielerin wie du. Weißt du noch, wie wir ganze Stücke für Papa aufführten. Den Mittsommernachtstraum oder die Komödien und Dramen, die Karl sich immer ausdachte?«
»Das ist ja wohl kaum vergleichbar.«
»Da hast du recht - dies wird viel leichter sein. Ich werde so tun, als wäre ich die Gräfin von Langen - eine Frau wie du, als du deine Bühnenerfolge hattest.«
»Du bist aber nicht alt genug für eine Gemahlin Maximilians.«
»Ich werde vorgeben, die jüngere, zweite Frau des Grafen zu sein. Und wenn ich tausend Meilen von zu Hause weg bin - wer wird das schon durchschauen?« Als ihre Mutter ein skeptisches Gesicht machte, sprach Elissa eilig weiter: »Weißt du noch, wie ich klein war? Du hast immer gelacht und gemeint, ich könnte eine noch größere Schauspielerin werden als du. Das hast du wirklich gesagt, Mama, erinnerst du dich?«
Ihre Mutter seufzte. »Hm ...«
»Laß mich nach Wien gehen. Schreibe an deine Freundin, die Herzogin. Ihr kannst du doch
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