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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Papa, sag die Wahrheit«, hatte Justin seinen Vater kurz nach der Diagnose ermahnt, als Paul in seiner Hilflosigkeit versuchte, den Zustand seines Sohnes zu verharmlosen, und etwas von einer schweren Grippe stammelte. Nicht schwindeln. Die Wahrheit. Daran hatten Meredith, die Ärzte und er sich gehalten, soweit ein Kind verstehen konnte, welche destruktive Kraft in seinem kleinen Körper wütete. Aber jetzt? Klettern wir noch einmal auf den Peak? Da ging es nicht um Leukozyten und Plastozyten, nicht um Hb-Werte und die nächste Bluttransfusion. Es war eine einfache Frage, die auf eine einfache Antwort wartete: Ja oder nein? Justin blickte seinen Vater an, seine Augen wiederholten das ungläubige: Wirklich?
    »Aber sicher«, bestätigte Paul ein zweites Mal und nickte. Justin lächelte kurz und sank zurück in sein Kissen. Eine kleine Notlüge, die richtige Antwort, wer wollte daran zweifeln, und trotzdem konnte Paul sie sich nicht verzeihen. Sie trieb ihm auch heute, auf den Tag genau drei Jahre nach Justins Tod, die Tränen in die Augen. Er hatte seinen Sohn verraten. Er hatte ihn alleingelassen, indem er eine Illusion nährte, eine alberne, aberwitzige, völlig idiotische Hoffnung, anstatt die Wahrheit zu sagen und sie zu teilen und dadurch erträglicher zu machen. Ein Gefühl der Scham hatte ihn schon im Moment des Kopfnickens beschlichen, und es wurde seither nicht weniger, egal wie oft er seine Schwindelei im Geiste überdachte und rechtfertigte. Der Rest eines Zweifels blieb und mit ihm das Gefühl, in einem entscheidenden Moment feige gewesen zu sein.

II
    Paul ging als Letzter und nur widerwillig von Bord. Er wollte sich mit langsamen Schritten der Stadt nähern, aber kaum hatte er den Pier verlassen, empfing ihn ein Höllenspektakel. Zwei Presslufthämmer zermarterten ein Stück Asphalt, daneben stießen laut dröhnende Busse schwarze Abgaswolken in die Luft. Hinter einem Bauzaun hörte er es so schrill quietschen, scheppern und heftig krachen, dass es ihm in den Ohren weh tat und er vor Schreck zusammenzuckte. Um ihn herum wimmelte es von Menschen, die in größter Eile hin und her hetzten, ihm dabei ständig vor die Füße liefen und ihn anrempelten, sobald er stehen blieb. Ihre Hast übte einen eigenartigen Sog auf ihn aus, als müsse er ihnen nachlaufen und mit ihnen in den tiefen U-Bahn-Schächten verschwinden. Er hatte das Gefühl, die Stadt würde ihn jeden Moment verschlingen. Unmöglich konnte er hier die Wanderung beginnen. Er flüchtete in ein Taxi und fuhr zur Endstation der Peak Tram, von dort führte ein Fußweg hinauf zur Spitze. Der Höhenunterschied betrug knapp fünfhundert Meter, eine Distanz, die er früher problemlos bewältigen konnte, an manchen Tagen sogar mit Justin auf dem Rücken.
    Er nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche, setzte seinen Rucksack auf und machte sich auf den Weg. Die schmale Straße führte vorbei an May Tower und May Tower II, an Branksome und Branksome II und am Mayfair, exorbitant teuren Wohnanlagen mit 30-40stöckigen Hochhäusern, die aussahen wie gesichtslose Trabantenstädte und in denen ein Appartement trotzdem viele Millionen Hongkong Dollar kostete. Im Mayfair hatten Meredith und er zwei große Wohnungen besessen, die sie auf dem Höhepunkt des Immobilienbooms 1997 für mehr als das Dreifache des ursprünglichen Preises verkaufen konnten. Von einem Teil des Gewinns hatte er sich das Haus auf Lamma gekauft, von den Zinsen, die der Rest abwarf, lebte er.
    Paul bog in den Chatham Path, der von der Straße weg in eine dichte tropische Vegetation führte. Es ging jetzt steil bergauf, und er spürte die Spannung in den Waden und Füßen, in den Oberschenkeln und Knien, wie sie mit jedem Schritt seine knapp 70 Kilo nach oben wuchteten. Seit Tagen lag eine dichte Wolkendecke, grau wie Asche, über der Stadt. Am Vormittag hatte sie sich aufgelockert, jetzt schien an manchen Stellen sogar die Sonne, was den Aufstieg zu einer Wanderung durch ein heißes Dampfbad machte. Der Wald wuchs in diesem Abschnitt so dicht, dass Paul auf eine undurchdringliche grüne Wand blickte, vom Verkehr war nur noch ein fernes, gedämpftes Rauschen geblieben, statt Autos hörte er nun Vögel und Heuschrecken. Er machte eine Pause, trank die erste Literflasche Wasser aus und versuchte an nichts zu denken. Er wollte sich nicht erinnern, keine Bilder vor seinen Augen sehen, keine Gespräche mit Justin führen, das tat er oft genug, nachts, wenn er wach lag, wenn an Schlaf nicht

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