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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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blickte über die Terrasse. In der Nacht waren eine Reihe weißer Frangipaniblüten auf die Steine gefallen. Er stand auf, sammelte sie ein, ging ins Haus und legte sie in die Schale mit den anderen Blüten. Er holte einen Besen aus der Kammer und fegte die Terrasse. Nein, dachte Paul, ich verwahrlose nicht. In manchen Dingen mochte Meredith Recht gehabt haben, ein Zusammenleben mit ihm war unmöglich geworden, da widersprach er ihr nicht, aber in diesem Punkt irrte sie. Er hatte das Haus von Grund auf renoviert und hielt es sauberer, als es irgendeine von Merediths oder seinen Wohnungen jemals gewesen war. Zweimal am Tag wischte er Staub, und die Kacheln auf dem Fußboden, jeden Teller, jeden Becher, jedes Glas, jede Gabel, jedes Messer wusch er sofort ab. Das Badezimmer war so sauber, als würde es von den Hausdamen des Peninsula Hotels gereinigt. Vor den Fenstern standen Blumenkästen, in denen Geranien, Kamelien und Rosen wuchsen. Im Kühlschrank lagen stets frisches Obst und Gemüse. Er kochte für sich selbst, aß gut und trank seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, Wein, Whiskey und vor allem Gin könnten die Stimmen in ihm zum Schweigen bringen, könnten ihn am Abend beruhigen, ihn so betäuben, dass er durchschlief. Aber was immer er trank, es machte alles nur noch schlimmer. Die Schmerzen. Die Stimmen. Die Leere.
    Außerdem hatte er Angst, dass Justin ihn im betrunkenen Zustand finden könnte, falls er zurückkehrte. Diese Furcht war schwer zu erklären, das wusste er. Einmal hatte er versucht, sie David Zhang zu beschreiben, und selbst der, sein engster Vertrauter, der einzige Freund, den er je besessen hatte, konnte ihm nicht folgen.
    »Justin ist tot, Paul.«
    »Ich weiß, dass er tot ist, das brauchst du mir nicht zu sagen.«
    »Wenn er zurückkehrt, wird es nicht der Justin sein, den du kennst, er wird eine andere Form haben«, erklärte David, der als Buddhist an den ewigen Kreislauf von Tod und Geburt glaubte.
    »Ich sitze nicht zu Hause und warte, dass Justin jeden Moment durch die Tür kommt, aber...« Paul suchte nach Worten. »Ich möchte darauf vorbereitet sein.«
    »Worauf?«
    »Auf seine Rückkehr.«
    »Von der du weißt, dass es sie nicht geben wird.«
    Paul seufzte. »Von der ich weiß, dass es sie nicht geben wird«, wiederholte er. »Aber ich will sie nicht ausschließen.«
    So lächerlich es klingen mochte, aber genau das war es: Er wollte eine Rückkehr von sich aus nicht ausschließen. Deshalb besaß Justin ein Zimmer in diesem Haus. Deshalb befanden sich in diesem Zimmer ein Bett und ein Ventilator, deshalb war dieses Bett immer frisch bezogen. Aus diesem Grund hing an der Garderobe immer eine Kinderjacke, stand im Flur neben Pauls Gummistiefeln ein kleineres Paar für Justin, hatte er den Türrahmen mit den Markierungen für Justins wachsenden Körper in der alten Wohnung abgebaut und hier wieder anmontiert.
    »Ist das auch der Grund, warum du so selten von Lamma wegfährst?«, fragte David ohne eine Spur Ironie in der Stimme. »Damit du ihn nicht verpasst?«
    »Nein, das hat andere Gründe.«
    David schaute ihn an, ohne etwas zu sagen, sein Blick war Frage genug.
    »Ich will nichts vergessen.« Ein Satz, den er kurz nach der Beerdigung unvorsichtigerweise zu Meredith gesagt hatte und den sie später oft als Beleg dafür sah, dass seine Trauer das »normale Maß« überschreite und »krankhafte Züge« annehme. Die Diskussion darüber, was bei der Trauer über den Tod des eigenen Kindes ein »normales Maß« und was »krankhafte Züge« waren, hatte in einem ihrer seltenen heftigen Streite geendet. Wo war die Grenze zwischen normal und krankhaft? Wer legte sie fest? Paul war der Meinung, dass dazu niemand das Recht habe. Ein Biologe hatte ihm einmal erzählt, dass manche Delphine nach dem Tod ihres Partners einfach aufhören zu essen. Oder Gänse. Sie können auf den Verlust ihres Gefährten so heftig reagieren, dass sie tagelang ohne Pause umherfliegen, nach ihm oder ihr rufen, suchen, bis sie die Orientierung verlieren und zu Tode erschöpft vom Himmel fallen.
    »Genau das will ich nicht«, hatte Meredith entgegnet, »und genau das würde auch Justin nicht wollen. Paul, das Leben geht weiter.«
    Er hasste diesen Satz. In ihm lag die unaussprechliche Ungerechtigkeit, die ganz und gar empörende, ungeheuerliche Banalität des Todes. Alles in Paul sträubte sich dagegen. Es gab Tage, da empfand er jeden Atemzug als Verrat an seinem Sohn. Tage, an denen

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