Das Flüstern der Schatten
als ihre Hände, es war glatt und auf eine irritierende Art faltenlos, dafür hing am Hals die Haut in kleinen Säckchen herab wie bei einer älteren Frau. Sie konnte Mitte vierzig oder ebenso gut Anfang sechzig sein. Es war eines dieser gepflegten Gesichter, die möglichst wenig verraten sollen, die geübt sind im Verstecken der Wunden und Sorgen, der Spuren, die das Leben darin hinterlässt. Sie trug Sportschuhe, aber die lange Hose, die Bluse und vor allem das Jackett waren viel zu warm für diese Jahreszeit. Offensichtlich war sie an Klimaanlagen gewöhnt. Vermutlich hatte sie vom Hotel direkt ein Taxi zum Peak genommen und noch gar nicht gemerkt, wie heiß und feucht es war. Er schwieg in der Hoffnung, das Gespräch so zu beenden.
»Ihnen machen die vielen Menschen nichts aus? Oder gewöhnt man sich mit der Zeit daran?«
Er holte tief Luft. Um nicht zu unhöflich zu sein, antwortete er: »Ich wohne auf Lamma, einer kleinen Insel. Dort ist es ruhiger.«
Sie nickte, als würde das alles erklären.
»Sie sind bestimmt viel in China unterwegs, stimmt’s?«
»Früher ja. Heute weniger. Und Sie?« Er bereute die Frage sofort. Was war nur in ihn gefahren? Wie konnte er so dumm sein, ihr eine so allgemeine Frage zu stellen? Das war die Einladung, auf die sie vermutlich nur gewartet hatte.
Jetzt würde sie gleich von ihren diversen Chinareisen erzählen oder von denen ihrer Freundinnen oder denen ihres Mannes. Von ihrem Besuch auf der Großen Mauer und in der Verbotenen Stadt. Von den absonderlichen Tischsitten, vom Rülpsen und Furzen und Schmatzen während der Mahlzeiten. Von den kleinen Kindern, die keine Windeln tragen, sondern durch Schlitze in ihren Hosen einfach auf die Straße scheißen. Oder von den Hochhäusern in Shanghai, den teuren Mercedes Benz und BMWs auf den Straßen, womit sie in einem kommunistischen Land nun wirklich nicht gerechnet habe. Und am Ende wird sie fragen, dachte Paul, ob es stimmt, dass Chinesen Affen bei lebendigem Leib den Kopf aufschlagen und das Hirn ausschlürfen. Aber statt zu dem befürchteten Redeschwall anzusetzen, schwieg sie und schaute Paul zum ersten Mal direkt ins Gesicht. Er zuckte zusammen. Kannten sie sich? Ihm war, als hätten sie sich schon irgendwo einmal gesehen. Ganz sicher sogar. Ihre großen blauen Augen. Der durchdringende Blick. Die Unruhe, die darin lag. Die Nervosität. Das Flackern. Die Angst. Sie waren ihm so vertraut, als wäre es gestern gewesen. Sie waren sich schon einmal begegnet. Aber wo?
»Kennen wir uns?« Seine sonst so ruhige Stimme klang plötzlich seltsam aufgeregt.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Sie kommen mir bekannt vor. Haben Sie zufällig im Queen Elizabeth-Krankenhaus gearbeitet?«
»Nein.«
»Arbeiten Sie bei einer Bank? Kennen Sie vielleicht meine Frau, Meredith Leibovitz?«
»Nein.«
Paul überlegte. Möglicherweise hatte sie einmal in der Stadt gelebt, und sie waren sich in Justins Schule begegnet?
»Haben Sie Kinder?«
»Ja, einen Sohn.« Sie wandte ihren Blick ab und erhob sich. Als hätte sie mitten in der Bewegung die Kraft verlassen, hielt sie für einen Moment inne und fiel dann zurück auf ihren Stuhl. Sie versuchte es noch einmal, stützte sich auf den Tisch, wankte und sank zurück auf ihren Platz.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Nur ein wenig schwindelig«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Der Kreislauf. Ich vertrage dieses Klima nicht so gut.«
»Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie etwas Wasser?«
»Wasser wäre gut, ja.«
Paul stand auf und ging zum Tresen. Plötzlich hörte er von hinten das Geräusch von wegrutschenden Stühlen und einen dumpfen Laut. Als er sich umdrehte, war die Frau verschwunden. Erst beim zweiten Blick sah er sie auf der Erde zwischen den Tischen liegen.
Obgleich die Ambulanz vom Matilda Hospital nur wenige Minuten benötigte, war Elizabeth Owen schon wieder bei Bewusstsein, als die Sanitäter eintrafen. Sie saß leichenblass an eine Wand gelehnt und trank etwas Wasser. Paul hockte neben ihr. Sie wollte nicht ins Krankenhaus. Unter keinen Umständen. Sie wollte ins Hotel. Dort warte ihr Mann. Sie habe niedrigen Blutdruck, schon seit Jahren, und heute Morgen lediglich vergessen, ihre Tabletten zu nehmen. Hinzu kämen die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit. Sobald sie ihre Medikamente einnehme, werde es ihr wieder besser gehen. Kein Grund, sich in die Obhut eines Krankenhauses zu begeben. Die Sanitäter packten ihre Sachen wieder zusammen, Paul holte eines der Taxen,
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